Rede von Dr. Andreas Gassen zur Sitzung der Vertreterversammlung der KBV am 27. Mai 2019
Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,
ich begrüße Sie zur Vertreterversammlung vor dem Deutschen Ärztetag, diesmal im ehrwürdigen Münster. Die große Tradition der Ärztetage und mittlerweile auch der sich daran anschließenden KBV-Vertreterversammlungen wirken fast wie eine Konstante in der aktuell so erratischen und skandalisierten Zeit.
Vielleicht ist genau das das Wesen unserer Zeit. Sie wird bestimmt von „ fake news“ und Algorithmen, die intransparent Entscheidungen treffen, die mitunter den Vorschlag für ein Restaurant zum Abendessen betreffen, manchmal aber sogar über die Frage, ob jemand zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wird oder nicht. Und gleichzeitig treffen österreichische Politiker Absprachen mit vermeintlichen Oligarchen.
Ein eifriger, im günstigsten Fall naiver Nachwuchspolitiker einer ehemaligen Volkspartei fabuliert über die Kollektivierung großer Unternehmen und sieht das Kernproblem der DDR-Diktatur im Mangel an demokratischer Mitbestimmung. Er ruft damit eine Phalanx an Widersachern nicht nur in der Industrie hervor, sondern auch in den Gewerkschaften, der Opposition bis hin zur eigenen Partei. Ich habe nichts gegen eifrige, auf Medien schauende Jungpolitiker, aber ich fände es angebracht, wenn sie wissen, wovon sie reden. Vielleicht wäre bei der Suche nach „innovativen Ideen“ eine gewisse Portion Demut vor der Komplexität der Gegenwart angebracht. Denn nur aus der Studierstube heraus lässt sich praktische Weltkenntnis in den seltensten Fällen gewinnen. Aber die Studierstube hat auch dieser Herr ja nur kurz gesehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch so eine „innovative Idee“ machte neulich die Runde. Da will der sich im Wahlkampf befindende sächsische Landesvater den neuen Studiengang eines sächsischen Landarztes einführen. Wahnsinn! Klingt wie Satire, war aber wohl ernst gemeint. So lösen wir also den Mangel an zur Verfügung stehender Arztzeit: Indem wir junge Menschen ausbilden, um „sächsischer Landarzt" zu werden. Da hätte ich gerne mal die Definition, was ein „Landarzt für Sachsen“ so ist. Reaktivieren wir die Bader und Feldscher? Ich fürchte, da hat jemand zu lange im „Medicus“ gelesen. Und überhaupt: Was macht dieser sächsische Landarzt mit einer „lokalen“ – landesspezifischen – Qualifikation? Kann der nur Sachsen behandeln? Was, wenn er seinen Beruf zufällig nicht mehr in Sachsen ausüben will? Als Pflegehelfer arbeiten? Oder gibt es noch das Zusatzmodul Großtiere um das Leistungsspektrum abzurunden?
Wir brauchen keine Halbärzte – wir brauchen bessere Rahmenbedingungen, die Kolleginnen und Kollegen motivieren, sich in die ambulante Versorgung einzubringen. Die Ausbildung für Ärztinnen und Ärzte muss aber gleich sein – die Menschen sind es schließlich auch.
Ist es der Zeitgeist über Dinge zu sprechen, von denen man nichts versteht? Ich weiß nicht: Liegt es am Ende an den modernen Kommunikationsmitteln? Wenn jeder über Twitter, Facebook oder Instagram seine Meinung in die Welt blasen kann, dann liegt es nahe, dass manch einer glaubt, seine Meinung sei auch wichtig. Und wenn man glaubt, die eigene Meinung sei wichtig, liegt die Versuchung nahe zu denken, dass diese Meinung die einzige sei, die zählt. Mittlerweile scheint es egal zu sein, ob das, was man sagt, richtig ist – Hauptsache, man hat es als erster gesagt und in sozialen Medien verbreitet.
Ein bisschen mehr Besonnenheit täte also vielen Akteuren gut und würde ihnen auch manche Blamage ersparen.
Besonnenheit brauchen wir auch im Gesundheitswesen, damit Gesetze entstehen, die nicht an der Realität vorbei gehen und die dann die Versorgung verbessern, ohne das bisherige hohe Niveau zu gefährden.
Vor zwei Wochen erst ist das Terminservice- und Versorgungsgesezt (TSVG) in Kraft getreten, aber längst liegen die nächsten Gesetze in der Pipeline. Unser Gesundheitsminister ist bekanntermaßen sehr agil und es gibt fast kein Thema, dass er nicht durch den Gesetzgebungsturbo jagen würde.
Wir haben uns über das TSVG intensiv ausgetauscht, neben den altbekannten Aufregern beinhaltet es viele sinnvolle Lösungen und auch die entscheidende Zusage des Ministers, mehr Geld in die Versorgung zu geben.
Ich kann jeden Kollegen nur zu gut verstehen, der sich über Eingriffe des TSVG in seine Praxisorganisation empört hat. Nicht nur, weil es sich einfach nicht gehört, einem Freiberufler ins Handwerk zu pfuschen, sondern auch, weil einige Regeln durchaus die Gefahr bergen, die Versorgung schlechter zu machen und den Ablauf in den Praxen zu behindern. Das TSVG soll schnellere Termine bringen. Das wird erschwert, wenn die Praxen im gleichen Atemzug widersinnige Vorgaben umsetzen müssen.
Für die Umsetzung etlicher gesetzlicher Regelungen müssen wir uns zudem mit den Krankenkassen einigen – so weit, so gut. Die ersten Gespräche lassen leider nichts Gutes ahnen. Die Zusage des Ministers „mehr Geld für mehr Leistung“ lässt die Kassen bisher offensichtlich kalt. Es scheint Strategie zu sein, jedwede Regelung so zu verkomplizieren, dass es de facto nicht zu mehr Geld, aber dafür zu mehr Aufwand und Kontrolle führen wird. Daher von dieser Stelle mein klarer Appell an die Krankenkassen: Liebe Selbstverwaltungspartner, stoppen Sie diese Obstruktionspolitik! Helfen Sie uns mit, den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Ihre jetzige Haltung konterkariert klar die Absicht unseres Gesundheitsministers. Allein die ersten Einlassungen des GKV-Spitzenverbandes zur ohnehin schwierigen praxisgerechten Umsetzung der offenen Sprechstunde lassen eine echte Umsetzung unmöglich erscheinen. So wird das dann aber nichts mit schnelleren Terminen. Die Leidtragenden sind dann wieder die Patienten. Es wäre fatal, wenn die Kassen dieses Gesetz in weiten Teilen ins Leere laufen lassen – das Vertrauen der Ärzte und Psychotherapeuten in die Politik wäre damit nachhaltig gestört.
Dass es bei Ärzten und Psychotherapeuten überhaupt Misstrauen gibt, hat nicht zuletzt mit einigen anderen politischen Vorstößen zu tun.
„Innovative Ideen“, um Versorgung zu verbessern, sind ja per se nicht schlecht. Das Rad neu zu erfinden, ist aber nicht nötig und Bewährtes zu gefährden wäre völlig kontraproduktiv. Problematisch sind einige Ideen, für die gerade die Werbetrommel gerührt wird. Der Direktzugang zur Physiotherapie zum Beispiel. Ich erkenne selbstverständlich an, dass Physiotherapeuten eine eigene hohe Expertise für ihr Fach haben und dass sie sie so umfassend einsetzen möchten wie möglich. Aber es muss allen klar sein, dass der Physiotherapeut beim Direktzugang auch die Budgetverantwortung tragen muss – Regressbedrohung und Haftung inklusive. Wenn ich das deutlich mache, höre ich meistens: „Oh, dann doch lieber nicht“.
Es kann auch nicht sein, dass über den Direktzugang erstmal „anbehandelt“ wird.Wenn dann Probleme auftauchen, sollen die Ärzte in die Bresche springen. So funktioniert das aber nicht. Ähnlich verhält es sich bei der Reform der Hebammenausbildung. Natürlich kann man das über die Hochschulen machen, völlig in Ordnung. Die beruflichen Anforderungen verändern sich und werden komplexer. Aber es sollte doch jedem klar sein, dass es sich um die professionelle und hochqualitative Geburtshilfe handelt und eben auch nur um das – um es klar zu benennen: Es gibt keine Gynäkologie light. Vorsorgeuntersuchungen sind ärztliche Tätigkeit, dafür sind nur die Gynäkologen ausgebildet. Sollen jetzt auch die Hebammen einen Sono-Schein machen? Wollen wir eine derartig fragmentierte Versorgung?
Die Frage, die all diese Ideen aufwerfen, lautet: Wer organisiert und verantwortet medizinische Versorgung?
Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich befürworte ausdrücklich die weitere Ausdifferenzierung der medizinischen Berufe. Wir werden jetzt eine Ausbildungsreform der OP- und Anästhesie-technischen Assistenten bekommen. Das wird der komplexen Versorgung gerecht und bietet spannende und verantwortungsvolle Arbeitsplätze. Ein OP-Assistent, der das Instrument schon in der Hand hat, bevor ich daran denke, ist für jeden Operateur Gold wert. Entscheidend ist aber letztlich, wer der Prozessverantwortliche ist. Es ist die logische Folge, dass diese besser ausgebildeten Kräfte dann auch mehr können, und natürlich muss der Arzt nicht alles höchstpersönlich machen.
Vielleicht müssen wir in der Öffentlichkeit noch einmal darüber informieren, was das ärztliche Selbstverständnis ausmacht. Es gibt einen Goldstandard, der sich bewährt hat – das ist die ärztlich verantwortete Versorgung als Garant für eine hohe medizinische Qualität. Wenn das die Politik nicht mehr will, dann soll sie es offen sagen. Man kann sich auch für eine andere Art medizinischer Versorgung entscheiden, dann macht eben jeder, was er kann und der Patient sucht sich aus diesem fragmentierten Angebot medizinischer Leistungen die zusammen, die er für richtig hält.
Das passt nicht zusammen? Ist sogar gefährlich? Das wird dann leider keinem mehr auffallen, nicht einmal Dr. Google.Noch steht in unserem System der Arzt im Zentrum. Er koordiniert, er behält den medizinischen Überblick, er haftet juristisch und mit seinem Privatvermögen, er trägt die Budgetverantwortung. Es ist keine „innovative Idee“, daran zu rütteln. Es ist grober Unfug. Das sage ich nicht, weil ich uns Ärzte als die großen Zampanos der Versorgung ansehe. Sondern weil es einen/eine geben muss, der/die die medizinische Koordinierung der Versorgung übernimmt. Dafür sind wir Ärzte durch ein langes und aufwendiges Studium ausgebildet worden. Dafür haben wir die Medizin. Die Frage lautet deshalb: Wollen wir noch ärztlich verantwortete und koordinierte Therapie? Die Antwort geben die Bürger meistens ziemlich schnell und eindeutig. Und was zum Beispiel den Direktzugang zum Physiotherapeuten angeht: In den Niederlanden hat sich herausgestellt, dass zwei Drittel der Bürger doch lieber erst zum Arzt gehen und nicht gleich zum Physiotherapeuten.
Es geht dabei nicht darum, ob nach ärztlicher Weisung ein Angehöriger eines gegebenenfalls auch akademisierten Hilfsberufes eine Untersuchung oder einen Behandlungsschritt durchführt. Ob das dann eine Delegation oder eine Substitution ist, erscheint eher als semantische Unterscheidung. Entscheidend ist, dass es in ärztlicher Gesamtverantwortung bleibt. Sonst hat das mit ärztlicher Kunst nichts mehr zu tun.
Es fällt mir da spontan der Satz ein, den Mephistopheles in Goethes „Faust“ spricht: „Dann hat er die Teile in seiner Hand – fehlt, leider! nur das geistige Band.“ Das geistige Band zu liefern, das ist ärztliche Kunst. Diese ärztliche Kunst erwarten unsere Patienten und dafür bezahlen die Versicherten auch ihre Krankenkassenbeiträge. Ärztliche Behandlung ist mehr als die Durchführung verschiedener Leistungen – somit mehr als die Summe der Teile. Das Gleiche gilt für unsere Patienten. Sie sind kein Befund, den Künstliche Intelligenz eventuell schneller oder gar besser befundet, kein Laborwert, keine Studieninhalte.
Auch wenn Ärzte sicher keine Halbgötter in Weiß sind – so sind wir für unsere Patienten ein Mensch, ein Fachmann. Eine Instanz, der sie immer vertrauenkönnen. Wer Stanley Kubricks Film „2001 Odyssee im Weltall“ aus dem Jahr 1968 kennt, wird wahrscheinlich nicht von Hal, dem Supercomputer mit künstlicher Intelligenz behandelt werden wollen. Dann schon eher von Dr. McCoy, auch Pille genannt, der im Raumschiff Enterprise zwar höchstmoderne Technik verwendet und die Medizin des 20 Jahrhunderts als „finsteres Mittelalter“ bezeichnet, aber trotz medizinisch-holografischer Notfallprogramme natürlich als Arzt die letztendliche medizinische Entscheidung trifft.
Ähnlich sieht es mit der IT und der Telemedizin in der Versorgung aus. Auch hier treffen wir auf Glaubenssätze eines geradezu prophetischen Heilsversprechens. Auch hier wäre etwas Demut angesagt. Die Boeing 737 sind nicht deshalb vom Himmel gefallen, weil die Piloten versagt haben, sondern weil eine fehlerhafte Software den Sturzflug befohlen hat. Ich bin mir sicher, hätte man die Piloten gefragt, hätten sie sich gegen diese IT-Neuerung ausgesprochen. Aber die Experten werden ja nicht immer gefragt.
IT und Digitalisierung haben unbestreitbar großes Potenzial, ich glaube, da sind wir uns größtenteils einig und selbst viele Kritiker nehmen die Vorteile der Digitalisierung zum Teil unbewusst gerne mit. Es ist auch richtig, dass manche Prozesse quälend lange gedauert haben.
Es ist gut, wenn wir uns die Arbeit leichter machen, wo wir sie uns leichter machen können. Das Hängen und Würgen bei der Telematikinfrastruktur (TI) zeigt aber gerade, wie Digitalisierung auch lähmen kann. Wir haben bis heute keine Aussage der gematik, wer für die Folgeabschätzung zum Datenschutz in der TI verantwortlich ist. Das ist nachher Thema von Herrn Kriedel. An dieser Stelle nur so viel: Der Minister sitzt jetzt mit im Boot. Ich hoffe, dass diese Probleme jetzt schnell gelöst werden. Das ist wichtig für Ärzte und Psychotherapeuten – Angst vor Datenschutzproblemen ist kein Motivator, auf neue Ideen zu setzen.
Gleichzeitig muss uns als Ärzteschaft auch klar sein, dass wir uns mit neuer Technologie, neuen Versorgungsformen, neuen Ansprüchen an Versorgung auseinandersetzen müssen. Wir können sie nicht pauschal ablehnen. Wir müssen uns diesen Themen genauso stellen, wie wir es mit Fortschritten in der Behandlung tun. Wir prüfen vorurteilsfrei und wenn es unseren Patienten hilft, setzen wir es ein. So müssen wir auch mit Themen wie Digitalisierung umgehen, sonst verlieren wir unsere Glaubwürdigkeit.
Bringt die Telemedizin jetzt den großen Durchbruch in der Versorgung? Auch hier ist mir ein bisschen zu viel „Vorsprung-durch-Technik“-Pathos in der Luft. Telemedizin wird in den Praxen vorkommen, selbstverständlich. Aber sie ist natürlich kein Allheilmittel. Für manche Indikationen ist sie eine sinnvolle Ergänzung, sie kann aber keine Praxen ersetzen. Viel entscheidender ist doch, dass telemedizinische Angebote überhaupt in den und durch die niedergelassenen Praxen gemacht werden und nicht durch Callcenter – erst recht nicht in der Hand der Kassen oder gar profitorientierter internationaler Großkonzerne.
Wenn wir die Telemedizin voranbringen wollen, dann müssen wir das auch mit der GKV zusammen tun. Dafür braucht es von beiden Seiten den Willen. Ja, wir können einen großen Wurf wagen und bei dem Thema wirklich einen großen Schritt vorankommen. Dafür braucht es vernünftige Preise und Regeln, sonst wird kein Kollege sich in diesen zusätzlichen Bereich einbringen. Telemedizin ist kein Medizin-Discounter: Wenn die Preise nicht stimmen, wird das nie laufen. Und noch einen Illusionsballon können wir gleich platzen lassen: Telemedizin schafft keine neuen Ärzte und auch nicht mehr Arbeitszeit. Sie wird vielleicht manchem Patienten nutzen, der sich nicht mehr für jeden Termin in die Praxis begeben muss. Mehr aber auch nicht. Ich habe jedenfalls noch niemanden gesehen, der durchs Laptop eine Bauchdecke abtasten konnte. Und KI und Algorithmen werden uns nur sehr begrenzt Entscheidungen abnehmen können.
Oder wie es Prof. Marcus Siebolds, den Stephan Hofmeister gerne zitiert, auch sagt. : „Arzthandeln ist die Kunst des Handelns im klinischen Widerspruch“. Das ist zum einen mehr, als sich theoretisch über Studien auszulassen oder stumpf einer Empfehlung einer KI-Struktur zu glauben. Zum anderen ist es auf uns Vertragsärzte bezogen, die wir den professionellen Spagat zu bewältigen haben, einerseits den individuellen Bedürfnissen unserer Patienten entgegenzukommen und andererseits stellvertretend für das Gesamtsystem einen Aushandlungsprozess um die ökonomischen Möglichkeiten zu führen. Oder, etwas weniger elegant formuliert: Wir halten unseren Kopf dafür hin, dass der Gesellschaft die Gesundheitskosten nicht um die Ohren fliegen.
Ich fasse das noch einmal zusammen: Es gab und gibt die gesellschaftliche Übereinkunft, die ambulante Versorgung den Vertragsärzten und Vertragspsychotherapeuten zu geben. Wir haben den Sicherstellungauftrag angenommen und erfüllen ihn mit großem Engagement und hoher Verantwortung. Subjekt des Sicherstellungsauftrages ist der wirtschaftlich selbständige Vertragsarzt. Die Betonung liegt auf ARZT. Das TSVG und alle darauf folgenden Gesetze können überhaupt nur exekutiert werden, weil es den wirtschaftlich selbständigen Vertragsarzt und Vertragspsychotherapeuten gibt. Die angestellten Ärzte, deren Arbeit wir brauchen und die wir hoch schätzen, stehen in keinem Rechtsverhältnis mit dem Gesetzgeber oder der Exekutive. Sagen wir es deutlich: Ohne uns selbständige Vertragsärzte ist alles nichts. Also hört auf mit den „innovativen Ideen“! Hört auf mit der Budgetierung! Hört auf mit der Gängelung! Mit starken Vertragsarztpraxen sichern wir die Versorgung. Man muss uns nur lassen.
Diese starken Vertragsarztpraxen sind im Übrigen Arbeitgeber für unsere angestellten Kolleginnen und Kollegen. Man sagt mir häufig, es würden ja immer mehr Ärzte angestellt und in Teilzeit arbeiten wollen, die Ärzte alten Typs seien passé. Die Zahlen scheinen das auf den ersten Blick zu bestätigen. Von den 175.000 an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Kolleginnen und Kollegen sind mehr als 35.000 angestellt. Tendenz seit Jahren steigend. Aber das ist eine Momentaufnahme. Wenn wir genau hinsehen, wird deutlich: DEN Angestellten gibt es nicht.
Wir müssen stattdessen die Zeitschiene betrachten: Eine erste vorübergehende Anstellung als Weiterbildungsassistent in einer Praxis, dann eine Tätigkeit in der Klinik, dann eine Anstellung als Facharzt in der ambulanten Versorgung, dann die Selbständigkeit mit der Übernahme einer eigenen Praxis – heute meist in kooperativer Form – und dann wieder eine Anstellung kurz vor der Pension, um die Praxis zu übergeben. So sehen heute die Biographien von vielen Angestellten aus. Es ist eine große Stärke des Systems der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), dass wir solche Konstellationen möglich machen. Wir geben Antworten auf die Bedürfnisse der Kolleginnen und Kollegen – die KV-Welt ist ein lebendiges, lernendes System. Wer behauptet, die KVen seien verkrustet, der hat keine Ahnung, wovon er spricht. Womit wir mal wieder beim Thema wären.
Noch so eine „innovative Idee“ ist die Öffnung der Krankenhäuser für die ambulante Versorgung. Den KVen wird ja gerne vorgeworfen, dass sie die flächendeckende Versorgung schon lange nicht mehr aufrechterhalten können und dass deshalb die Kliniken in die Bresche springen würden. Liebe Kolleginnen und Kollegen, erlauben Sie, dass ich mich wundere. Wo sind die neurologischen, dermatologischen und augenärztlichen Stationen in diesem Land? Welches Landkrankenhaus kann noch mit mehr als zwei, drei Fachabteilungen aufwarten? Wo müssen Abteilungen schließen, weil die Stellen nicht besetzt werden können?
Wir sind hier auf einer öffentlichen Veranstaltung, daher mag es etwas unfair sein, wenn ich an eine Arbeitssitzung der hauptamtlichen VV-Mitglieder erinnere. Ich tue es aber doch, weil die Analyse, die der Kollege Dastych zur fachärztlich-stationären Versorgung in Hessen hat erarbeiten lassen, ein besonderes Schmankerl ist. Zeigt sie doch, dass das Reden vom Krankenhaus, das die ambulante Versorgung übernehmen könne, eine Chimäre ist. Ich habe selten ein so lautes Gelächter gehört, nur weil jemand große weiße Flecken auf einer Landkarte präsentiert hat.
Aber im Ernst: Selbst wenn die Kliniken geöffnet und selbst wenn sie über genügend Kollegen verfügen würden, um diese Aufgabe zu übernehmen, müssten sie immer noch nach ambulanten Spielregeln versorgen. Unser Honorar, unsere Qualitätssicherung, unsere Bedarfsplanung. Ob das den Verwaltungsdirektoren Freude macht?
Aber auch hier wollen wir nicht nur pauschal ablehnen, sondern wir haben ja mit unserem IGZ- Konzept, das wir zusammen mit der Uni Bayreuth erarbeitet haben, Optionen aufgezeigt, wie mit vereinten Kräften aus ehemaliger stationärer Versorgung und ambulanter Versorgung etwas entstehen kann, was den Menschen in unserem Land hilft.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestern standen wir an den Urnen zur EU-Wahl. Wir taten das mindestens aus einer staatsbürgerlichen Pflicht heraus, im besten Falle mit einer klaren europäischen Überzeugung.
Die Europäische Union – das ist auch das Prinzip Subsidiarität. Dahinter steckt die Überzeugung, dass jeder in seinem Land und in seiner Region am besten weiß, wie gemeinsame europäische Ziele umgesetzt werden. Kommt uns irgendwie bekannt vor. Das Gesundheitswesen der Bundesrepublik ist ebenso organisiert und fährt seit Jahrzehnten exzellent damit. Ich würde sagen, es ist ein Erfolgsmodell.
Wir erleben immer wieder, dass es auf europäischer Ebene einen gewissen Überschwang gibt und manche Vorhaben zentralistisch gedacht und für einige Mitgliedsstaaten nachteilig sind. Ich erinnere nur an die Berufsanerkennungsrichtlinie. In solchen Fällen reagieren wir, schmieden Allianzen, um unseren Anliegen Gehör zu verschaffen. In der Regel stehen wir Seite an Seite mit unseren Politikern dafür ein, diese Subsidiarität zu erhalten. Nichts anderes als die Subsidiarität wollen wir auf der deutschen Ebene erhalten. Es wäre schön, wenn die gleichen Politiker ihre in Brüssel an unserer Seite geäußerten Überzeugungen auch in der deutschen Gesetzgebung einhalten würden.
Deshalb: Wer meint, dirigistisch in die Versorgung vor Ort hineinregieren zu müssen, setzt auf das falsche Pferd. Denn wir haben ein exzellentes Gesundheitssystem mit leistungsfähigen KVen. Wir haben trotz aller unbestrittenen Schwächen und mancher Fehler, noch kein Versorgungsproblem. Wir haben wahrscheinlich das beste und solidarischste Gesundheitssystem der Welt. Dieses zu erhalten, muss unser gemeinsames Ziel sein. Dafür kämpfen die KBV und die KVen, dafür kämpfen wir als Ihr KBV-Vorstand, täglich mit aller Kraft!
Vielen Dank
Es gilt das gesprochene Wort.