Rede von Dr. Andreas Gassen zur Sitzung der Vertreterversammlung der KBV am 13. September 2019
Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
herzlich willkommen zur Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dieses Mal wieder im eigenen Hause.
Was ist seit Münster passiert? Wir haben eine Kollegin als EU-Kommissionspräsidentin. Wir haben einen Brexit, dessen Abwicklung uns schaudern lässt. Wir hatten eine parlamentarische Sommerpause, die uns etwas Luft holen ließ im Dauerfeuer der Gesetzesvorschläge aus dem BMG.
Und wir hatten vor zwei Wochen Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen. Die Ergebnisse wurden wie üblich ausgiebig diskutiert, aber eigentlich war die Erregung darüber doch eher lauwarm. Was ist passiert? In einem Klima populistischer Zuspitzung haben sich diejenigen haarscharf durchgesetzt, die Verantwortung tragen und vor Ort in kleinen Schritten die Mühen der Ebene bewältigen. Es ist – so die häufig zu hörende Aussage – nochmal gutgegangen.
Ist es das?
Oder zeigt sich eher doch etwas anderes in diesem Ergebnis?
Zeigt es nicht auch, dass eine zunehmende Zahl von Wählern – rund ein Viertel – eben nicht zufrieden ist? Und ist die Wahl so ausgegangen wegen nachhaltiger Zustimmung zur Regierungsarbeit oder wegen eines zähneknirschenden Bekenntnisses zur Funktionsfähigkeit von Regierungen? Rund ein Viertel der Wähler in diesen Ländern setzt aber ein Signal der Unzufriedenheit mit den aktuell Regierenden – alles Rechtsradikale? Wohl eher in großen Teilen Protestwähler.
Es scheint, als ob trotz objektiv guter wirtschaftlicher Daten bei vielen Menschen Unzufriedenheit herrscht. Die Gründe sind vielfältig. Manche Entscheidungen sind nicht wirklich verständlich, manche sind einfach Murks, manche Entscheidungen werden nicht gut kommuniziert und manchmal werden auch irrationale Erwartungen geweckt, die nicht erfüllbar sind, die aber vielleicht auch ungefragt niemand eingefordert hätte.
Das kommt uns auch im Gesundheitswesen bekannt vor. Objektiv ist unsere Versorgung gut, weltweit Spitze! Trotzdem gibt es immer wieder vermeintlich Berufene, die daran herumnörgeln. Manche sind schlicht ahnungslos, andere haben schlicht irrationale Erwartungshaltungen und wieder andere kritisieren nur, um Änderungen herbeizuführen, die das System grundlegend ändern sollen.
Diesen Verdacht hat man auch bei mancher aktuellen politischen Diskussion:
Nehmen Sie den Klimawandel – der ist unbestreitbar da.
Der Einfluss des Menschen auf diesen Klimawandel ist ebenfalls unbestreitbar vorhanden.
Ab da wird es aber schon schwierig. Wer etwas kritisch hinterfragt, wird gleich beschimpft. So muss aber doch die Frage gestattet sein, ob die zweilfellos große Bedeutung des Umweltschutzes nicht auch dafür instrumentalisiert wird, eine grundlegende Änderung der Gesellschaftsform herbeizuführen, die offen gefordert nie eine Mehrheit fände.
Denn die Antworten auf die Probleme des Klimawandels sind nicht so einfach, wie es scheint oder scheinen soll:
Seien wir realistisch: Es wird in Deutschland wohl weiter Individualverkehr geben, In- und Auslandsflüge etc. geben. Es ist nämlich nicht davon auszugehen, dass sich Carbonrennyachten mit professionellen Skippern als transatlantische Transportmittel für den Durchschnittsbürger durchsetzen werden.
Wollte man eine CO2-neutrale Energie, müsste man wohl die Kernenergie reaktivieren – und hoffen, dass nichts passiert. Oder doch Windkraft oder Wasserkraft?
Leider sind auch diese Formen der Energiegewinnung nur im Betrieb CO2-neutral – bei Bau, Energieweiterleitung oder Entsorgung schlagen aber dann doch relevante CO2-Mengen auf.
Die Betrachtung ist also komplexer als gedacht.
Dass allein durch die Herstellung von Batterien für Elektroautos die CO2-Bilanz mit 11 bis 15 Tonnen des Treibhausgases belastet wird, wird gern verschwiegen.
Also, alles lassen wie es ist: definitiv nein.
Aber das Thema ist so komplex, dass einfache Lösungen nicht funktionieren werden, auch wenn mancher nur einfache Lösungen versteht. Die Antworten werden daher wohl eher Wissenschaftler geben als Politiker, die in den allermeisten Fällen bei dem Thema fachlich deutlich überfordert wären.
Das ist im Gesundheitswesen letztlich nicht anders.
Es gibt unbestreitbar Probleme, wie demographische Entwicklung, Fachkräftemangel, wachsendes Anspruchsdenken, sinkende Arztzeit und manches mehr.
Hilft da eine vermeintlich einfache Lösung wie die Bürgerversicherung?
Natürlich nicht.
Und da entdecken wir erneut Parallelen zum Umweltschutz – es wird eine vergleichsweise einfache Lösung präsentiert, von der wohl nur die wenigsten ihrer Befürworter ernsthaft annehmen, sie würde etwas lösen, die aber unser Gesellschaftssystem ändern würde.
Vielleicht liegt hier auch ein Stück weit die Erklärung für die Wahlergebnisse der letzten Wochen. Viele Menschen fühlen sich verunsichert. Sie erwarten seriöse Antworten.
Und die bestehen häufig aus Pragmatismus, Konzentration auf die oftmals erforderlichen kleinen Schritte, stringente und zukunftsorientierte Entscheidungen.
Das ist auch der Politikansatz, den das KV-System verfolgt. Das bedeutet die Mühen der Ebene, das Kleinklein des Organisierens von Versorgung, das Agieren in engen und manchmal frustrierenden gesetzlichen Rahmen. Dafür gewinnt man oft keine Blumentöpfe. Aber diese Arbeit ist es, was eine gute Selbstverwaltung ausmacht. Es sind aber meist keine simplen schnellen Lösungen.
Wir Vertreter des KV-Systems sehen uns oft mit einigem Unverständnis konfrontiert. Unsere Kolleginnen und Kollegen können uns bisweilen nicht folgen in dem, was wir beschließen und bei dem, was wir mit den Partnern der Selbstverwaltung verhandeln. Es ist unsere Aufgabe, diese Entscheidungen zu erklären und die Ärzte und Psychotherapeuten mitzunehmen. Ich denke, das gelingt uns immer besser.
Manchmal sehen wir uns auch einer Kritik ausgesetzt, die das System und unsere Arbeit fundamental infrage stellt. Da kommen wir dann mit einfachen Erklärungen kaum noch weiter. Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen, vertraue ich darauf, dass auch die Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten sich in der Mehrheit für den pragmatischen Politikansatz entscheiden und uns, ihre Vertreter auf Landes- und Bundesebene, ihr Vertrauen geben, indem sie wissen und anerkennen, dass es auch hier um die kleinen Schritte und realistische Lösungen geht, die wir unbeirrt verfolgen.
Einer dieser Schritte, der erst im genaueren Hinschauen in seiner Bedeutung zu erkennen war, lag dem Konzept KBV 2020 zugrunde, das wir bei der Vertreterversammlung in Hamburg 2016 einstimmig verabschiedeten. Ich scheue mich nicht, noch einmal den „Geist von Blankenfelde“ zu bemühen, also jenes Einverständnis, mit dem wir bei der damaligen Klausur der KBV-Vertreterversammlung die Weichen für eine künftige ambulante Versorgung gestellt haben. Was darauf folgte, waren viele kleine Schritte. Jede Menge Mühen der Ebene. Jede Menge Überzeugungsarbeit.
Heute, vier Jahre später, befindet sich das KV-System in einer völlig neuen Situation: Wir werden als Partner von Politik und gemeinsamer Selbstverwaltung wieder sehr ernst genommen – und das zu Recht. Wir haben weitreichende Konzepte vorgelegt, die wir schon längst umsetzen. Wir gestalten die künftige Versorgung! Wer konnte das aus dem damaligen Paper so herauslesen? Wer hätte sagen können, dass wir wirklich so weit kommen würden? Es gab jede Menge Zweifler, die heute eines Besseren belehrt werden.
Und auch heute wieder, liebe Kolleginnen und Kollegen, entwickeln Sie mit uns in den VV-Klausuren die Gedanken aus dem Konzept 2020 kontinuierlich weiter. Wir führen lange Gespräche und Diskussionen, wir haben keine Denkverbote, Sie springen so manches Mal über Ihren Schatten. Angesichts der Erfahrung mit KBV 2020 bin ich zuversichtlich, dass auch ein weiterentwickeltes Konzept der nächste Aufschlag sein wird für eine zeitgemäße künftige ambulante Versorgung. Für diese gilt auch weiterhin unser Anspruch: eine flächendeckende und wohnortnahe Versorgung, diskriminierungsfrei, qualitätsgesichert, zugänglich für jeden. Aber es braucht wieder … viele kleine und zähe Schritte, um das zu erreichen. Gehen wir sie gemeinsam – pragmatisch, unbeirrt, konsequent und innovativ!
Ein weiterer Schritt könnte ein Angebot verschiedener Tarife in der gesetzlichen Krankenversicherung sein.
Zum Beispiel ein Steuerungstarif. Den habe ich am vergangenen Wochenende angesprochen, als ich in einem Interview auf das ausufernde Ärztehopping mancher Patienten hingewiesen habe. Wer pausenlos Ärzte aufsuchen möchte, soll das tun. Wenn das aber auf Kosten der Solidargemeinschaft und der ohnehin knappen Ressourcen geschieht, dann wäre ein finanzielles Steuerungselement angemessen. Zum Beispiel mit speziellen Tarifen in der GKV: Wer sich steuern lässt, zahlt weniger – wer den ungeregelten Arztbesuch will, zahlt relational mehr. Freie Arztwahl haben aber weiterhin alle. In diesem Zusammenhang könnten die Krankenkassen auch Zusatzoptionen anbieten – meinetwegen auch einen Zusatztarif Homöopathie. Das hat nichts mit 2-Klassen-Medizin zu tun. Aber es ist wohl so, dass in der Krankenversicherung eben nicht gilt: One size fits all.
Und so vehement ich für das Verbot der Erstattung homöopathischer Mittel in der solidarisch finanzierten GKV bin, so sehr würde ich mich dafür aussprechen, derartige Angebote in Form von Wahl-Zusatztarifen den Versicherten anzubieten. Wer solche Behandlung wünscht, sollte als mündiger Bürger das Recht haben, entsprechende Zusatzversicherungen abzuschließen.
Dieser gar nicht so neue Vorschlag, der aber eine wirkliche effiziente Maßnahme wäre, hat zu dem üblichen Aufruhr und zu fast reflexartigen Abwehrreaktionen bei einigen geführt. Interessanterweise haben mir etliche Patienten zustimmende Briefe und Mails geschickt.
Es stößt auf Kritik bei denen, denen Unterschiedlichkeit an sich unheimlich ist – bei denen, die alles gleichmachen wollen. Manche verstehen es einfach nicht. Wiederum andere verstehe ich nicht mehr.
Ausgerechnet Karl Lauterbach wettert gegen den Vorschlag und damit gegen das von ihm im Selektivvertrag so hochgelobte Prinzip der Steuerung durch den Hausarzt. Auch die AOKen, die sonst immer eifrig bemüht sind, HzV-Verträge abzuschließen, wiegeln ab.
So sagt Christopher Hermann von der AOK Baden-Württemberg im gleichen Atemzug:
„In der freiwilligen Alternativen Regelversorgung in Baden-Württemberg kommen Versorgungssteuerung und Versorgungsqualität idealerweise zusammen. Das ist der zielführende Weg zu besserer Patienten- und Ärztezufriedenheit.“
Das ist doch toll!
Da hätte ich schon eine Verständnisfrage: Warum ist das blöd, wenn wir das vorschlagen als Option im Kollektivvertrag? Oder geht es gar nicht darum, die Versorgung für möglichst viele zu verbessern, sondern nur um einen Wettbewerbsvorteil? Das kann ich gar nicht glauben.
Und dass die Vorsitzende der TK NRW, immerhin einmal Gesundheitsministerin in NRW, den Vorschlag damit abbügelt, dass jeder das Recht auf freie Arztwahl und auch auf eine Zweitmeinung habe, wundert auch. Solche Äußerungen sind nicht gerade Ausweis von hoher fachlicher Kompetenz.
Hier zum Einschub eine kleine Einführung ins SGB V: Die Zweitmeinung findet sich mit Ausnahme des vom G-BA Ende letzten Jahres nach Gesetzesänderung eingeführten Zweitmeinungsverfahrens für Tonsillektomie und Hysterektomie nämlich definitiv nicht im SGB V – dafür aber der Paragraf 12. Sie kennen ihn alle WANZ.
Aber wozu Kenntnis von der Materie, wenn Ideologie reicht. Unruhig werde ich nur, wenn mir derartige Politiker vorschreiben wollen, was ich wann esse oder mit welchem Verkehrsmittel ich wann, wie oft und wie weit in Urlaub fahre. Ich glaube, mündige Bürger müssen nicht gesagt bekommen, wie sie sich zu versichern haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, keine September-VV ohne Honorarverhandlung. Für das Jahr 2020 sind sie abgeschlossen, und zwar ohne den erweiterten Bewertungsausschuss anrufen zu müssen. Das Ergebnis wurde medial knackig verkürzt so dargestellt: „Noch eine halbe Milliarde mehr für die Vertragsärzte“.
Konkret bedeutet es einen Anstieg des Orientierungspunktwertes für ärztliche und psychotherapeutische Leistungen um 1,52 Prozent, das heißt von 10,8226 Cent auf 10,9871 Cent. Das entspricht einem Volumen von 565 Millionen Euro. Das ist insofern eine gute Nachricht, weil die diagnose- und demografiebezogenen Veränderungsraten in diesem Jahr … nun sagen wir: nicht so viel hergaben. Ebenso konnte rückwirkend für das vor-vorherige Jahr kein besonderer Anstieg des morbiditätsbedingten Behandlungsbedarfes geltend gemacht werden.
Ein schwerer Brocken war die Verhandlung zur Humangenetik. Wegen der deutlichen Mengenauswertung konnten wir nun endlich erreichen, dass die humangenetischen Beurteilungsleistungen in den kommenden beiden Jahren außerhalb der MGV vergütet werden. Für die In-vitro-Diagnostik tumorgenetischer Veränderungen haben wir vereinbart, die Leistungen weitere drei Jahre außerhalb der MGV zu vergüten. Stand heute bedeutet das, dass diese Leistungen erst ab Juli 2023 wieder in die MGV rutschen.
Und schließlich haben wir auch eine Anschubfinanzierung für die Videosprechstunde vereinbaren können. Auch die wird außerhalb der MGV vergütet werden.
Das führt mich zur größten Honorarbaustelle, die wir zu bewältigen haben: die Reform des EBM. Durch das TSVG ist noch einmal eine besondere Dynamik in die Verhandlungen gekommen. Die KBV hat einen eigenen Entwurf für die EBM-Weiterentwicklung vorgelegt, der die Gespräche mit den Berufsverbänden wo möglich berücksichtigt und zusammengefasst hat. Bisher sind wir uns mit der GKV nur darin einig geworden, den Erweiterten Bewertungsausschuss anzurufen und die finale Beschlussfassung in den Dezember 2019 zu verlegen, was eine Inkraftsetzung zum 1. April 2020 nach sich zieht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, von den Spitzfindigkeiten der Honorarpolitik komme ich nun zur alltagsrelevanten Versorgungsebene: dem vertragsärztlichen Bereitschaftsdienst. Am 30. August startete unsere bundesweite Kampagne unserer Bereitschaftsdienstnummer. Und Sie wissen, dass wir die Ziffernfolge 116117 von nun an als „Elf6 Elf7“ sprechen.
Wir bewerben die 116117 jetzt multimedial auf allen Kanälen. Ich wiederhole noch einmal, was das Ziel der ersten Monate der Kampagne ist: Wir machen die Nummer bekannt. Sie soll als „Elf6 Elf7“ in die Köpfe der Leute in diesem Land und von dort nicht wieder verschwinden. Das ist die erste Aufgabe. Die beiden Elfen, die die Agentur dafür erfunden hat, leisten genau das: eine auf den ersten Blick etwas schräge und nicht erwartbare Visualisierung einer Telefonnummer. Es ist ein Bild mit Ecken und Kanten, es soll auffallen. Damit erreichen wir die relevante Wahrnehmungsschwelle, die angesichts der unendlichen Bilderflut im medialen Raum extrem hoch hängt. Das scheint sich nach ersten Rückmeldungen auch zu bewahrheiten.
Ab dem Jahreswechsel zünden wir die zweite Stufe der Kampagne: Wir kommunizieren, welche Leistungen mit der 116117 verbunden sind. Neben dem Kontaktieren des Bereitschaftsdienstes gibt es auch die Terminvermittlung – per Telefon, per App, per Website. Der eTerminservice wird dann auch für den Patienten freigeschaltet sein – und im Laufe des Jahres 2020 können die Patienten via 116117.app auch die Selbsteinschätzung mit der Software SmED nutzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich noch einmal darauf hinweisen: Was wir mit der 116117 und der dazugehörigen App schaffen, ist nicht weniger als eine kleine Revolution der ambulanten Versorgung. Wir steigen damit ein in eine bedarfsgerechte Verteilung der knappen und immer knapper werdenden ärztlicher Kapazität und stimmen sie auf die Nachfrage und das Behandlungsbedürfnis unserer Patienten ab. Wir, das KV-System, gehen damit den Schritt, den sich die große Politik nicht zu gehen wagt: die Patienten in die für sie geeignete Versorgungsebene zu leiten. Und zwar für das gesamte Angebot der ambulanten Versorgung unter Abdeckung der ambulanten Notfallversorgung.
Wenn das etabliert ist, haben wir etwas erreicht, was einzigartig auf der Welt ist.
Wir haben an dieser Stelle schon oft von der Alles-und-Jetzt-Mentalität gesprochen, die sich in der Bevölkerung in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Ich will das gar nicht verdammen. Es gibt viele Gründe dafür, warum das so ist. Aber klar ist auch, dass die Politik sich vor dieser unbequemen Wahrheit drückt. Es ist ein bisschen so, wie mit den defizitären Landkrankenhäusern, auf die Stephan Hofmeister gleich noch eingeht: Lieber sehenden Auges eine marode Struktur subventionieren, als die eigenen Wähler verschrecken. Da kann ich als Orthopäde nur sagen: Eine Schonhaltung kann zwar kurzfristig den Schmerz verringern, aber eine Fehlstellung kann trotzdem daraus folgen! Gut, dass Minister Laumann in NRW einen ersten Schritt geht und die Krankenhausplanung neu aufstellen will. Das ist mutig und richtig. Wir brauchen neben der funktionierenden ambulanten Versorgung gute, leistungsstarke, personell gut ausgestattete Krankenhäuser in Deutschland – nur eben nicht 2000 an der Zahl.
Und auch wenn in der Vergangenheit mancher Gesundheitspolitiker oder Verbraucherschützer die Alles-und-zwar-sofort-Mentalität gefördert hat, gibt es mittlerweile die Bereitschaft der Gesundheitspolitik – namentlich bei BM Spahn –, in dieser Frage aktiv zu werden. Auch wenn er sich leider nicht offen gegen eine überhöhte Serviceerwartung der Bevölkerung ausspricht, hat er mit dem TSVG viele gesetzliche Grundlagen geschaffen, die eine Lenkung der Patientenströme in der Akut- und Notfallversorgung ermöglicht und hierfür auch Finanzmittel bereitgestellt. Das ist ein Novum.
Der nächste Schritt ist das angekündigte Notfallreformgesetz, von dem wir nur erste Schemen kennen. Zwar wabert der Nebel eines Eckpunktepapiers durch die Lande, aber so wirklich weiß keiner, was denn nun geplant wird. So finden sich viele gute Ansätze im Papier – jedoch könnte die mögliche Aufkündigung des Sicherstellungsauftrages Konsequenzen haben, über die sich im Augenblick mancher noch im Unklaren ist. Die Folge, dass Regelungen des TSVG damit gleich wieder unwirksam werden, ist dann noch einer der kleineren Kollateralschäden. Verlieren die Vertragsärzte das im Sicherstellungsauftrag verbriefte Recht auf die Exklusivität der ambulanten Versorgung, muss der Sicherstellungsauftrag wohl insgesamt in Frage gestellt werden. Ob man das will?
Die Zeiten sind heute andere. Es gibt zu wenige Ärzte und Psychotherapeuten und es bliebe abzuwarten, ob wir nochmals zu den gleichen Bedingungen wie 1955 kontrahieren würden. Ich finde es in diesem Zusammenhang sehr erfreulich, mit welcher Einhelligkeit die Vertragsärzteschaft ihre Positionen und ihre Kritik vorgetragen hat. Und ich freue mich besonders darüber, dass wir die Bundesärztekammer und den Marburger Bund dabei auf unserer Seite wissen. Es ist ein Zeichen von berufsständiger Vernunft, wenn wir gemeinsam die ärztliche Position vertreten. Und die ist nun einmal nicht getrieben von materiellen oder politischen Partikularinteressen – wir argumentieren medizinisch! Und auch unsere Partner der Gesamtverträge, die Krankenkassen, haben sich klar dafür ausgesprochen, den Sicherstellungsauftrag unangetastet zu lassen. Vielleicht ist die Motivation eine andere – aber das macht die Stellungnahme nicht weniger wichtig.
Ein politischer Bericht kommt heutzutage nicht ohne das Thema Digitalisierung aus. Auch wenn Thomas Kriedel das Thema gleich detailliert beleuchtet, will ich zwei Aspekte kurz anreißen.
Mit dem TSVG hat die KBV die Kompetenz für die Festlegung der semantischen Interoperabilität der elektronischen Patientenakte bekommen. Hinter diesem Begriff verbirgt sich die grundlegende Standardisierung von Behandlungsdaten, wir nennen sie medizinische Informationsobjekte – kurz MIOs. Politisch keine einfache, aber eine richtige Entscheidung. Die Masse der Versorgung – 650 Millionen Behandlungsfälle – findet ambulant statt. Es ist aber klar, dass eine Definition für alle im Gesundheitswesen Tätigen passen muss. Deshalb verstehen wir diese Entwicklung als joint venture. An diese Stelle mein Dank an die vielen Akteure außerhalb des KV-Systems, die hier ihre Expertise und Unterstützung einbringen. Gemeinsam werden wir diese Aufgabe bewältigen und einen Mehrwert im Gesundheitswesen generieren.
Ein solcher Mehrwert erschließt sich mir noch nicht bei allen geplanten Digitalisierungsvorhaben.
Nehmen wir das E-Rezept. Klammern wir für den Moment die technische Dimension aus – Thomas Kriedel wird hierzu ausführen –, kann man sich bei der aktuellen Konzeption schon die Kabarettisten vorstellen, die das Thema aufnehmen.
Ich will es kurz skizzieren:
- Patient kommt zum Arzt.
- Patient bekommt ein E-Rezept.
- Arzt signiert elektronisch und sendet das Rezept an den Rezeptserver der gematik.
- Patient bekommt den Link via E-Rezept-App auf sein Smartphone und scannt den erhaltenen Barcode in der Apotheke ein.
- Apotheke zieht Rezept aus dem Server und Patient bekommt sein Medikament.
- So weit so gut – das ist die idealtypische Variante.
- Jetzt die Variante: Patient hat kein Smartphone:
- Statt eines Linkes auf sein Smartphone, bekommt der Patient sein elektronisches Rezept als --- Ausdruck und zwar den Ausdruck eines Barcodes auf das Muster 16.
Digitalisierung at ist‘s best.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Digitalisierung war am Dienstag auch Thema beim Med.Summer von KBV und BÄK in Brüssel, einige von Ihnen waren vor Ort. EU-Kommission wie EU-Parlament arbeiten längst an einer umfassenden Strategie zur Harmonisierung digitaler Anwendungen im europäischen Gesundheitswesen. Neben grenzüberschreitenden eRezepten und elektronischen Patientenakten spielt auch die Forschung zur Künstlichen Intelligenz eine große Rolle. Das hat Frau von der Leyen in ihrem sogenannten „mission letter“ an die designierte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides noch einmal besonders betont.
Darüber hinaus hat die EU-Kommission längst ihre ethischen Leitlinien zur KI herausgebracht, die wir nur begrüßen können. Sie decken sich mit einer der Kernforderungen, die KBV und BÄK zur neuen EU-Legislaturperiode veröffentlicht haben. Darin machen wir deutlich, dass die deutsche Ärzteschaft sich ausdrücklich zur Digitalisierung bekennt, dass aber das besondere Vertrauensverhältnis zwischen Ärzten und Patienten auch in digitalen Versorgungselementen unbedingt erhalten bleiben muss. Freiwilligkeit, Datensicherheit und Datenautonomie des Patienten – das alles ist für uns nicht verhandelbar!
Damit schließt sich der Kreis vom Beginn meiner Ausführungen. Nicht nur die Klimapolitik ist komplex und in ihren kleinsten Verästelungen kaum mehr überschaubar. Vor komplexen Herausforderungen steht auch die Gesundheitspolitik. Fehler und Versäumnisse werden allerdings sehr viel schneller und individuell sehr viel stärker zu spüren sein. Aber anstelle nur emotional und moralinsauer zu reagieren, gilt es, wie auch in unserer ärztlichen Arbeit, das Problem zu analysieren, eine pragmatische Lösung zu finden und das medizinische Gebot primum non nocere zu beachten. Dazu braucht es oft nicht so sehr Geschrei, sondern Mut zur Detailarbeit. Das ist oft unbequem, nicht immer sexy und leicht zu vermitteln, aber alles andere wäre Augenwischerei.
Wir Vertragsärzte und Vertragspsychotherapeuten sind die Experten für den Versorgungsalltag im ambulanten Bereich. Das beweisen wir täglich.
Das Wichtigste ist: Man kann jederzeit mit uns reden, wir hören zu, wir bringen uns gerne ein und wir kennen Vertraulichkeit. Was wir aber niemals liefern werden, sind unterkomplexe Scheinlösungen auf die entscheidenden Fragen der Gesundheitspolitik von morgen. Unsere Vorschläge kommen mit garantiertem Realitäts-Check. Wir sind garantiert nachhaltig.
Das sind wir schon unseren Patienten schuldig.
Vielen Dank
(Es gilt das gesprochene Wort.)