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E-Health

Professorin Sylvia Thun: "Deutschland braucht eine E-Health-Strategie"

Professorin Sylvia Thun ist Ärztin und Expertin für IT im Gesundheitswesen. Im Interview erklärt sie, weshalb Deutschland eine E-Health-Strategie braucht und warum die Furcht der Deutschen vor Datenmissbrauch den Fortschritt lähmt.

Medizinischer Fortschritt kann nicht mehr stattfinden ohne digitalen Fortschritt. Stimmen Sie dieser These zu?

Selbstverständlich. Wir leben im Zeitalter des digitalen Wandels, dem kann man sich nicht verschließen, schon gar nicht in der Medizin. Das medizinische Wissen ist mittlerweile so umfangreich und komplex, dass es nicht von einem Menschen beherrscht werden kann. Deswegen ist die Digitalisierung für das Wissensmanagement, aber auch für effizientere Prozesse extrem wichtig. Insofern ist es unerlässlich, Technologien, die bereits entwickelt wurden, auch zu nutzen. Es gibt ein Büro für die Risikofolgenabschätzung von Technologien. Meiner Meinung nach müsste es auch eines geben zur Folgenabschätzung der Risiken, die bestehen, wenn verfügbare Technologien nicht eingesetzt werden.

Ein Bestandteil des digitalen Fortschritts ist Cloud Computing. Das ist allgemein auf dem Vormarsch, hat aber auch Kritiker, besonders im Gesundheitswesen. Wie ist Ihre Meinung?

Cloud ist ein Begriff, der gerade revolutionär überall benutzt wird. Es werden die verschiedensten Daten in Clouds gespeichert und Services definiert. Ich bin sicher, dass sich dies im Gesundheitswesen etablieren wird. Auch hier wird sich die Technologie weiterentwickeln, verbunden mit immer besseren Verschlüsselungsmechanismen etc. Es kann von ungeheurem Nutzen sein, wenn ich von überall Zugriff auf meine Daten habe. Ich reise durch die ganze Welt, wenn ich krank werden sollte, hätte ich sämtliche relevanten Werte und Bilder, um schnellstmöglich eine Therapie beginnen zu können. Wovor genau haben die Menschen eigentlich Angst? Diese Technologie kann Leben retten. Da hat der Schutz des Patienten Vorrang vor dem Schutz der Daten. Ich habe meine Gendaten analysieren lassen. Die sind irgendwo in der Welt, noch nie hat jemand danach gefragt.

″Eigentlich müsste ich als Arzt Angst davor haben, nicht digital vernetzt zu sein.″

Sie sehen das sehr entspannt. Viele haben aber Bedenken, was mit ihren Daten geschieht, wenn die erst einmal „in der Welt“ sind …

Mich würde interessieren, welche Bedenken die Leute haben. Mir scheint es eher ein mulmiges Gefühl zu sein als das Wissen um eine konkrete Gefahr. Jedenfalls wird keine fundierte Diskussion über Risiken geführt. Das Stichwort Datenklau ist verbreitet, ohne dass die meisten wissen, was die Folgen eines solchen wären. Jemand hätte in diesem Fall Zugriff auf meine Diagnosen. Das mag für den einen oder anderen unangenehm sein. Möglicherweise beruht diese Befindlichkeit aber nur auf der Tatsache, dass die meisten zu wenig über die neuen Technologien wissen.

Eine Sorge ist möglicherweise, dass Firmen, die etwas verkaufen wollen, jemandem etwas andrehen, was er nicht haben möchte.

Das ist doch jetzt schon so. Wenn ich den Begriff „Schweinegrippe“ in eine Suchmaschine eingebe, haben unzählige Firmen Zugriff hierauf. Das ist den meisten Menschen nur nicht bewusst und wird daher unwissend geduldet. Ärzten hingegen wird der für die Patienten transparente Zugriff auf die wichtigsten Daten verwehrt. Das ist nicht nur nicht nachvollziehbar, sondern eine Behinderung effektiver ärztlicher Behandlung. Wir verhindern dadurch, dass ein Arzt das theoretisch verfügbare Wissen praktisch nutzen kann. Im Klartext bedeutet es, dass beispielsweise unerwünschte Wechselwirkungen von Arzneimitteln nicht entdeckt werden. Das hat nicht nur gravierende Folgen für den Patienten, sondern auch haftungsrechtliche für den behandelnden Arzt. Eigentlich müsste ich als Arzt Angst davor haben, nicht digital vernetzt zu sein.

″Wenn weiterhin jeder macht was er will, dann haben wir keine Chance, die Ärzte zu überzeugen″

Wie erleben Sie die Ärzteschaft in Bezug auf Digitalisierung und Vernetzung: aufgeschlossen oder eher defensiv?

Die Ärzte werden immer aufgeschlossener. Anfangs gab es in Deutschland schlechte IT-Projekte, die die Ärzte nicht überzeugt haben. Hinzu kam der Investitionsstau, der sowohl im Krankenhaus als auch im niedergelassenen Bereich Neuerungen verhindert. In anderen Ländern gibt es viel mehr Finanzierung von staatlicher Seite. Die brauchen wir auch, denn ohne eine entsprechende Infrastruktur wird die Digitalisierung nicht funktionieren. Der zweite große Aspekt ist die rechtliche Grundlage. Diese muss für Ärzte erst geschaffen werden, etwa bei der Telemedizin, aber auch in Bezug auf datenschutzrechtliche Voraussetzungen. Vor allem aber braucht Deutschland eine richtige E-Health-Strategie, und zwar für alle Bereiche: Wissenschaft, Versorgung, Public Health, Behördenkommunikation etc. Wenn weiterhin jeder macht, was er will, dann haben wir keine Chance, die Ärzte zu überzeugen.

Wer könnte eine solche Strategie entwickeln?

Wir bräuchten dafür eine Institution, die oberhalb der Ministerien und auch oberhalb der Selbstverwaltung angesiedelt ist und die mit der Forschung und der Industrie zusammen eine Strategie entwickelt. Wichtig ist eine fundierte und umfassende Strategie und nicht nur eine mit marginalen Anwendungen, wie sie im jetzigen E-Health-Gesetz stehen. Die Frage ist jedoch nicht nur, wo so etwas institutionell angesiedelt werden kann. Es stellt sich auch die Frage nach der Kompetenz: Wer kann eine solche Strategie überhaupt entwickeln? Die gematik ist es nicht. Erstens, weil sie zurechtgestutzt wurde auf das Thema Infrastruktur und zweitens, weil sie nur für die gesetzlich Krankenversicherten zuständig ist. Wir sind in Deutschland leider sehr schlecht aufgestellt, was die Expertise angeht. Uns fehlen schlichtweg die Fachleute.

″Was wir brauchen, ist die Möglichkeit, eine Diagnose für verschiedene Anwendungszwecke von einem System in ein anderes zu übermitteln.″

Der Bundestag hat kürzlich beschlossen, die Interoperabilität von Praxis-IT-Systemen gesetzlich vorzuschreiben. Ist das ein erster Schritt?

Nein, nicht so, wie es hier geschehen ist. In diesem Fall geht es nur um die Archivierung. Natürlich möchte ein Arzt, wenn er das System wechselt, dass seine Altdaten übernommen werden. Aber das geht auch heute schon. Was wir brauchen, ist die Möglichkeit, eine Diagnose für verschiedene Anwendungszwecke von einem System in ein anderes zu übermitteln, beispielsweise, wenn dem Strahlentherapeuten ein onkologischer Befund mitgeteilt werden soll. Ein anderes Beispiel sind die AMTS-Systeme (Arzneimitteltherapie-Sicherheit, Anm. d. Red.). Die basieren alle auf verschiedenen Rohdaten, zum Beispiel der ABDATA, des Bundesinstituts für Arzneimittel, der Pharmaindustrie etc. Wenn Sie nun in der Praxis einen Interaktions-Check bei Ihren Verordnungen machen wollen, dann erhalten Sie je nach System unterschiedliche Ergebnisse. Und wissen Sie, wer die Ergebnisse macht? Das sind zwei, drei Software-Anbieter, die wiederum mit der Pharmaindustrie verbunden sind. Für so etwas werden immer wieder Schlupfwinkel im Gesetz gefunden. Hier müsste es klare Vorgaben geben, dass alle dieselben Begriffe und Substanznamen nutzen und alle Checks auf der gleichen Basis gemacht werden müssen. Das ist einer der Bereiche, in denen der Staat sich stärker aufstellen muss.

Kernstück der Digitalisierung im Gesundheitswesen soll die elektronische Patientenakte sein. Bislang gibt es nur Insellösungen. Wann wird es die Akte für alle geben?

Wir haben in Deutschland noch nicht einmal festgelegt, was eine solche E-Akte überhaupt sein soll. Im Moment ist es leider so, dass jede Stelle eine eigene Akte anlegt: Krankenkassen, Ärzte, die Industrie etc. Deswegen brauchen wir diese übergeordnete Strategie, da es sonst keine einheitliche Patientenakte geben wird. Die Strategie könnte auch darin bestehen, dass einheitliche IT-Standards für alle genutzt werden, und zwar internationale Standards. Wenn die Schnittstellen spezifiziert sind, und man etwa Labordaten von einer Akte in die andere übertragen kann, gibt es keine technologischen Kollisionen. Dann wäre es auch kein Problem, wenn es unterschiedliche Anbieter von Akten gibt.

Neben medizinischen Einrichtungen sollen auch die Patienten Zugriff auf ihre Daten haben und diese freigeben können, auch vom Smartphone aus. Hier fehlt es allerdings an einheitlichen Sicherheitsstandards. Ist dieses Problem überhaupt lösbar?

Ja, klar. Schauen Sie mal nach Amerika. Dort werden Sie aus dem Krankenhaus entlassen und haben sofort Zugriff auf ihre komplette Akte. Warum funktioniert das dort und hier nicht? Wegen der „German angst“ bezüglich des Datenschutzes? Es gibt ausreichend Sicherheitsstandards und Verschlüsselungstechniken. Einige Standards müssten etwas angepasst werden, weil die Vorgaben in Deutschland strikter sind, zum Beispiel bei Einwilligungserklärungen. Das wären aber nur minimale Änderungen. Dafür engagiert sich hierzulande jedoch keiner, weil diese internationalen Standards, wie IHE und HL7, in Deutschland nicht bekannt sind.

Ist das Versprechen, der Patient bliebe Herr über seine Daten, überhaupt zu halten?

Es ist genau umgekehrt: Aufgrund der technischen Möglichkeiten wird der Patient erstmalig Herr seiner Daten! Bislang ist es doch völlig nebulös, wo welche Daten liegen. Kein Patient weiß das. Jetzt hat er das erste Mal die Chance, seine Daten einzusehen und über sie zu verfügen. Ein Beispiel: Ich komme ins Krankenhaus und erteile dem Arzt dort die Erlaubnis, meine bei der Krankenkasse gespeicherten Behandlungsdaten einzusehen. Der Arzt kann dann mit einem Knopfdruck die Diagnosen der letzten drei Jahre abrufen. Das erspart Patienten und Ärzten viel Zeit und den Krankenversicherungen viel Geld. Da sage ich doch: endlich!

″Weil wir 15 Jahre lang nichts gemacht haben, schicken Ärzte und Pflegepersonal Daten per WhatsApp durch die Gegend.″

Der Patient wäre also derjenige, der die Daten verteilt. Meinen Sie, dass jeder Versicherte dazu bereit ist? Das erfordert ja, dass er sich auseinandersetzt mit dem, was über ihn gespeichert ist.

Wenn ein Arzt einer alten Dame erklärt, dass er sie besser behandeln kann, wenn er auf ihre Medikationsliste zugreifen kann, dann wird sie zustimmen. Wo ist das Problem? Der Bürger bzw. Patient wurde doch jahrelang dumm und damit unmündig gehalten. Die Medizin der Zukunft wird so funktionieren, dass der Patient mehr weiß als früher. Seine Krankheit gehört ihm, nicht dem Arzt. Das Geschäftsmodell wird sich komplett ändern. Es wird der Arzt erfolgreich sein, welcher der beste ist, und der beste Arzt wird derjenige sein, der alle vernünftigen technischen Möglichkeiten nutzt, die ihm zur Verfügung stehen.

Bundesgesundheitsminister Gröhe sagt, wenn alle Akteure – Praxen, Krankenhäuser, Apotheken und Patienten – umfassend digital vernetzt sind, werde sich der Datenschutz im Vergleich zum Status quo automatisch verbessern. Stimmen Sie dem zu?

Das ist aber intelligent von Herrn Gröhe (lacht). Im Ernst: Warum gibt es denn überhaupt die elektronische Gesundheitskarte? Auslöser war der Skandal um Lipobay (ein Cholesterinsenker, der 2001 für über hundert Todesfälle verantwortlich gemacht wurde, Anm. d. Red.). Hätte es den nicht gegeben, wäre nichts passiert. Es muss immer erst etwas passieren, bevor Neuerungen entwickelt und umgesetzt werden. Ein aktuelleres Beispiel ist der Computervirenbefall in zwei Krankenhäusern in Nordrhein-Westfalen. Die mussten deshalb sechs Tage lang ihre OP-Säle schließen. Erst jetzt wird endlich in die IT-Sicherheit an Krankenhäusern investiert.

Sie können also so einem Fall etwas Positives abgewinnen, weil er Aufmerksamkeit schafft?

Ja. Man investiert dann mehr in die Sicherheit. Insofern hat Herr Gröhe Recht. Je mehr Menschen sich mit einer Sache auseinandersetzen, desto mehr wird sie auch zum Geschäftsmodell. Sie müssen wissen: Weil wir fünfzehn Jahre lang nichts gemacht haben, weil wir keine digitale Infrastruktur haben, schicken Ärzte und Pflegepersonal Daten per WhatsApp durch die Gegend! Weil sie einfach keine technische Alternative haben. Sollen sie den Patienten lieber leiden oder gar sterben lassen, als auf diese Weise zu kommunizieren? Es kann doch nicht sein, dass Ärzte so etwas heutzutage auf sich nehmen müssen.

 Prof. Dr. Sylvia Thun

Sylvia Thun ist Ärztin und Diplom-Ingenieurin. Seit 2011 lehrt sie als Professorin Informations- und Kommunikationstechnologie im Gesundheitswesen an der Hochschule Niederrhein. Zuvor befasste sie sich am Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information (DIMDI) in Köln mit Terminologien und Klassifikationen, Arzneimittelinformationen und der Interoperabilität zwischen Softwaresystemen. Sie wirkte an nationalen und internationalen Projekten zur Gesundheitstelematik mit. Thun ist Vorsitzende des Anfang 2017 gegründeten Spitzenverbands IT-Standards im Gesundheitswesen. 2014 wurde sie als einer von „Deutschlands digitalen Köpfen“ ausgezeichnet.