Beschimpfungen, Bedrohungen und körperliche Gewalt nehmen zu – VV fordert mehr Schutz und Unterstützung für Praxen
13.09.2024 - In deutschen Praxen nimmt die Gewalt zu. Fast jeder zweite Arzt, Psychotherapeut und Medizinische Fachangestellte wurde in den vergangenen fünf Jahren mindestens einmal von einem Patienten körperlich angegriffen oder bedroht. 80 Prozent erfuhren im vorigen Jahr verbale Gewalt. Das sind Ergebnisse einer Online-Umfrage, die die KBV am heutigen Freitag veröffentlicht hat.
Vor diesem Hintergrund sprach sich die Vertreterversammlung der KBV heute ausdrücklich für die von der Bundesregierung angestrebte Verschärfung des Strafrechts aus. In einer Resolution appellierten die Mitglieder an die zuständigen Behörden, sicherzustellen, dass betroffene Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende nach einem Gewaltvorfall umfassende Unterstützung erhalten. Dies umfasse psychologische Betreuung, rechtliche Beratung und den notwendigen Schutz vor weiteren Übergriffen.
7.600 Umfrageteilnehmer
Bei der Online-Umfrage Ende August hat die KBV die Praxen zu deren Gewalterfahrungen befragt. 85 Prozent der rund 7.600 Teilnehmerinnen und Teilnehmer vermerkten, dass Beschimpfungen, Beleidigungen oder Bedrohungen von Ärzten, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitenden durch Patienten in den vergangenen fünf Jahren zugenommen haben. 48 Prozent der Befragten sind der Meinung, dass im selben Zeitraum auch die Fälle körperlicher Gewalt zugenommen haben.
Die meisten Praxen klagten über eine zunehmende Aggressivität und Respektlosigkeit von Patienten. Beschimpfungen und Beleidigungen gehörten mittlerweile zum Praxisalltag, berichteten Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Umfrage. Einen Grund sehen viele in einem gestiegenen Anspruchsdenken, das teilweise von der Politik und den Krankenkassen geschürt werde. „Patienten werden teilweise beleidigend und ausfallend, wenn sie nicht sofort drankommen oder nicht alles auf Rezept verordnet wird“, berichtete beispielsweise ein Arzt.
Körperliche Angriffe keine Seltenheit
Auch physische Angriffe auf Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende sind keine Seltenheit: 43 Prozent der Befragten gaben an, in den vergangenen fünf Jahren schon einmal selbst körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt zu haben. Von ihnen wurden 60 Prozent allein im vergangenen Jahr Opfer. Die Fälle reichen von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen. Jeder Vierte schaltete die Polizei ein und/oder erstattete Anzeige.
Notrufsystem und Fluchtwege eingerichtet
Ein Drittel der Praxen hat aufgrund der zugenommenen Gewalt Vorkehrungen getroffen und zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult.
Gassen: Verrohung der Sitten ist erschreckend
„Die Verrohung der Sitten ist erschreckend“, kommentierte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der KBV, die Ergebnisse. „Ein gesamtgesellschaftlicher Werteverfall trifft auf ein überlastetes und kaputt gespartes Gesundheitssystem. Außerdem wecken Politik und Krankenkassen zu hohe Ansprüche nach dem Motto ‚Geht zum Arzt, da bekommt ihr alles und das sofort‘“, so der KBV-Chef.
„Insgesamt ist der Ton in unserer Gesellschaft rauer geworden. Die Praxen als Spiegelbild unserer Gesellschaft bilden da keine Ausnahme“, erklärte Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender KBV-Vorstandsvorsitzender. Bei einer Milliarde Patientenkontakten, die jährlich im ambulanten Bereich zu verzeichnen seien, verhielten sich die meisten immer noch friedlich. Nichtsdestotrotz sei diese Entwicklung besorgniserregend.
Angriffe bleiben nicht folgenlos
Die zunehmenden Angriffe bleiben auch für die Versorgung der Menschen im Land nicht folgenlos: Zahlreiche Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende berichten, dass der Beruf keinen Spaß mehr mache und es noch schwieriger werde, gutes Personal zu halten oder zu gewinnen. „Die ohnehin angespannten Rahmenbedingungen werden so weiter verschlechtert“, sagte KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner.
„Die enorme Resonanz bei der Umfrage unterstreicht die hohe Betroffenheit der Praxen“, fuhr sie fort und sagte: „Vor diesem Hintergrund müssen die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen der konsequenten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit der staatlichen Vollzugsorgane vertrauen können.“
Alle drei Vorstände begrüßen die Pläne des Bundesjustizministers Marco Buschmann zur Strafverschärfung bei Angriffen auf Rettungskräfte, Feuerwehr und in Notaufnahmen. „Aber auch die Praxen sind ein wichtiger sozialer Faktor und Teil des Gemeinwohls. Sie bedürfen daher auch eines besonderen Schutzes“, stellten sie klar.
Gespräch mit Buschmann
Gassen zufolge hat der Minister in einem Gespräch mit ihm bekräftigt, dass Praxen für ihn essenzieller Bestandteil der Daseinsvorsorge seien und damit von der im Gesetz stehenden „Gemeinwohl dienenden Tätigkeit“ umfasst seien. Gleichwohl sei es jedoch wichtig zu wissen, ob und wie Vorfälle in Praxen, die heute schon einen Straftatbestand darstellten, auch zur Anzeige gebracht und verfolgt würden.
Eine Gesetzesverschärfung allein helfe nicht, wenn die Möglichkeiten zur Durchsetzung nicht genutzt würden, stellte Gassen klar. Er kündigte an, mit Unterstützung des Bundesjustizministeriums eine wissenschaftliche Untersuchung in Auftrag geben zu wollen, „wie Praxen mit Gewalterfahrungen umgehen und ob diese strafrechtlich weiterverfolgt werden, um auf dieser Grundlage über weitere Maßnahmen sprechen zu können“.
DIE ERGEBNISSE IM ÜBERBLICK
- Mehr als drei Viertel der Praxen sehen in der zunehmenden verbalen Gewalt in Praxen ein eher großes bis sehr großes Problem. 85 Prozent sind der Meinung, dass Beschimpfungen, Beleidigungen oder Bedrohungen von Ärzten, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitenden durch Patienten in den vergangenen fünf Jahren zugenommen haben. 48 Prozent der Befragten vermerkten, dass im selben Zeitraum auch die Fälle körperlicher Gewalt gestiegen sind.
- 80 Prozent der Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitenden haben im vergangenen Jahr selbst verbale Gewalt erlebt – häufig mehrfach. 14 Prozent von ihnen haben aufgrund der Vorkommnisse die Polizei eingeschaltet und/oder Anzeige erstattet. „Tatort“ sind nicht immer die Praxisräume, auch am Telefon oder im Internet verzeichnen viele einen raueren Ton.
- Auch Angriffe auf Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitenden sind leider keine Seltenheit: 43 Prozent der 7.580 Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitenden, die an der Befragung teilgenommen haben, gaben an, in den vergangenen fünf Jahren schon einmal selbst körperliche Gewalt bei der Ausübung ihrer Tätigkeit erlebt zu haben. Von ihnen wurden 60 Prozent allein im vergangenen Jahr Opfer. Die Fälle reichen von Tritten gegen das Schienbein, Schubsen und Spucken bis hin zu schweren Angriffen. So berichtete ein Arzt, dass er vor der Praxis zusammengeschlagen wurde. Jeder Vierte von ihnen hat die Polizei eingeschaltet und/oder Anzeige erstattet.
- Ein Drittel der Praxen hat aufgrund der zugenommenen Gewalt Vorkehrungen getroffen und zum Beispiel ein Notrufsystem installieren lassen, potenziell gefährliche Gegenstände wie Vasen, Scheren oder Brieföffner entfernt, durch Umbauten Fluchtwege geschaffen oder das Personal entsprechend geschult.
- Einen Grund für die gestiegene Gewaltbereitschaft sehen viele Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende in einem gestiegenen Anspruchsdenken von Patientinnen und Patienten, das teilweise von den Krankenkassen und der Politik geschürt werde. Häufig gehe es dabei um zeitnahe Termine, Rezepte oder bestimmte Untersuchungen, die eingefordert werden. Gleichzeitig sind den Angaben der Praxen zufolge viele Patientinnen und Patienten frustriert, was sich oft in Beleidigungen und Beschimpfungen äußere. Als eine Ursache dafür wird die verfehlte Gesundheitspolitik genannt.
- Die zunehmenden Angriffe bleiben auch für die Versorgung der Menschen im Land nicht folgenlos: Zahlreiche Ärzte, Psychotherapeuten und Praxismitarbeitende berichten, dass der Beruf keinen Spaß mehr mache und es noch schwieriger werde, gutes Personal zu halten oder zu gewinnen.