Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV, im Interview:
Was ist mit Patientensteuerung gemeint?
Ja, das ist genau die richtige Frage, denn was genau soll gesteuert werden bzw. was soll die Steuerung können? Ist als Steuerung gemeint, dass wir Patientinnen und Patienten den freien Zugang ins System verwehren und ihnen am Anfang vorgeben, wo sie sich zu melden haben, damit sie dann von dort aus ins System weiter verteilt werden? Das wäre eine mögliche Form von Steuerung. Das ist aber ganz weit weg von dem, was wir jetzt haben. Oder ist damit gemeint, dass wir Patientinnen und Patienten, die multimorbide sind, hochkomplex krank sind, im System besser Unterstützung geben, damit sie im System zurechtkommen und nicht im System herummäandern und vielleicht die Orientierung verlieren, Doppeluntersuchungen machen, bei den falschen Ärztinnen und Ärzten landen etc.
Und was versteht die KBV darunter?
Ja wir gucken uns dazu natürlich die Daten an und die Frage, wer muss überhaupt gesteuert werden, was passiert denn im System. Das ZI hat hierzu sehr viele hochinteressante Daten geliefert und die zeigen zum einen, dass es gar nicht so viele im System mäandernde Patienten gibt, die also völlig unsinnig mehrere Dinge gleichzeitig machen. Es gibt solche Patientinnen und Patienten, das sind aber nicht viele. Gleichzeitig zeigt es auch, dass Patientinnen und Patienten intuitiv relativ gut aufgestellt sich verhalten. Das heißt, die große Mehrheit hat Hausärztinnen oder Hausärzte oder geht zum Gynäkologen als Frau oder bei Kindern zum Pädiater, natürlich, verhält sich also schon weitgehend regelkonform. Die Kommunikation unter Ärztinnen und Ärzten, auch Teil der Steuerung, wird zurzeit verbessert. Da soll die elektronische Patientenakte eine große Rolle spielen. Zweiwege digitale Kommunikation etc. Hier wird sich viel verbessern.
In welchen Bereichen bedarf es einer Steuerung?
Nach den Zahlen, die wir haben, gibt es zwei große Gruppen. Das eine ist die Akut- und Notfallversorgung. Da ist es völlig unstrittig, dass es Steuerung bedarf. Es ist tatsächlich sinnlos, irgendwo hinzulaufen, zu irgendeiner Uhrzeit, am System vorbei. Damit Patientinnen und Patienten besser wissen, was ist denn, wenn ich akut was habe und es ist keine Praxis gerade da und offen. Da müssen wir dafür sorgen, dass in Zukunft die 116117 diese Patientinnen und Patienten abfängt und einfängt. Wir wissen aus allen Projekten, überall dort, wo es gemacht wird, funktioniert das hervorragend auch zur vollsten Zufriedenheit von Patientinnen und Patienten. Wir können dann dafür sorgen, dass das Angebot gemacht wird, was zu dieser Zeit an diesem Ort für den Patient oder die Patientin das Richtige ist. Das kann sehr unterschiedlich sein, je nach Tageszeit und Region in Deutschland, aber es ist immer das richtige Angebot zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das ist das eine Klientel, große Gruppe, aber tatsächlich gesamtsystemisch gesehen relativ geringe Fallzahlen. Da geht es um 10 Millionen, 12 Millionen Patienten, vielleicht 15 Millionen Patienten von 600 Millionen im Jahr. Die zweite Gruppe sind tatsächlich Patienten, die multimorbide sind. Das heißt, die also tatsächlich viele Arztkontakte haben und bei denen sehr genau darauf geachtet werden muss, dass Ärztinnen und Ärzte voneinander wissen, dass sie miteinander sprechen, dass sie die Gesamtbehandlung koordinieren. Das funktioniert in der Regel über einen Hausarzt oder eine Hausärztin am allerbesten. Hier ist vor allem gefragt, dass wir die Mittel der Kommunikation, dazu wird dann auch mal die elektronische Patientenakte zählen, nutzen, um diese Patienten zu steuern, damit es nicht zu Fehlversorgungen kommt. Die ganz kleine Gruppe der seltenen Erkrankungen, die ist insofern sehr wichtig, als das natürlich Menschen sind die immer wieder lange Wege hinter sich haben, bis die Diagnosen gestellt werden. Das ist aber eine so kleine Gruppe, dass sich hier das Thema Steuerung als Oberthema kaum anbietet. Das ist ein ganz spezieller Fall, der auch anders betrachtet werden muss.
Welche Rolle spielt dabei die 116117?
Die 116117 ist sozusagen die Default Position für diejenigen Menschen, die eben keine Praxis, keinen Hausarzt, keine Hausärztin als Ansprechpartner haben. Es gilt, dass man immer zuerst zu einer Praxis seines Vertrauens gehen sollte. Hausärztin oder Hausarzt zu haben, ist eine gute Sache und diese Hausarztpraxen sind auch dazu da, sich um diejenigen zu kümmern, die mit offenen Problemen dahin kommen und sich anzuschauen, was ist hier, was muss gemacht werden, in der Regel abschließend zu behandeln, zu diagnostizieren und immer dann, wenn darüber hinaus weitere Unterstützung durch Gebietsfachärzte notwendig ist, diese hinzuzuziehen. Das sollte der Regelbetrieb sein. Davon auszunehmen sind natürlich Pädiater, die wiederum für Kinder und Jugendliche da sind. Davon auszunehmen sind die Frauenärztinnen und Frauenärzte, die für Frauen zuständig sind und natürlich die Augenärzte. Da ist das Thema so evident und klar, dass es dort keine Vorauswahl gibt. Für alles andere könnte man sich durchaus vorstellen, dass man so was wie ein Primärarztsystem gut gebrauchen kann.
Halten Sie das Modell der KBV für mehrheitsfähig?
Es ist noch nicht ganz klar, was die Politik will. In der KBV war es mehrheitsfähig, ganz eindeutig. Die Vertreterversammlung hat dem mit ganz großer Zahl zugestimmt, denn wir haben weder ein apodiktisches, man muss immer zuerst zwingen dahin, System vorgeschlagen, noch ein, es kann jeder machen, was er will. Es wird eine Mischung sein. Und in dem Moment, wo man von Primärarzt, ich spreche dabei von Hausärztinnen und Hausärzten, spricht, wird man immer sofort sagen können, na ja, der 20-Jährige, der sich auf dem Sportplatz den Fuß verdreht hat und so einen Knöchel hat, ist vielleicht beim Unfallchirurgen auch nicht schlecht aufgehoben. Genau. Und ein Dialysepatient muss natürlich nicht, damit er wieder zur Dialyse darf, vorher zum Hausarzt, um die Überweisung abzuholen. Auch das wäre idiotisch und haben wir nicht gemeint. Insofern wird es Formen geben, bei denen diese Steuerung Varianten enthält. Und das ist unser Vorschlag. Grundsätzlich ist es richtig, zuerst zu Hausärztin oder Hausarzt zu gehen, mit ungeklärten Gesundheitsstörungen, denn das sind die Spezialisten dafür, Fachärzte für Allgemeinmedizin, das sind diejenigen, die da zuständig sind. Und insofern ist unser System ein System mit Variablen, mit Varianten und bildet das reale Leben ab.
Was erwarten Sie von der Politik?
Eigentlich wie schon so lange von uns gefordert, Ehrlichkeit gegenüber Bürgerinnen und Bürgern. Man kann nicht immer jederzeit alles haben, was man haben will. Das steht auch nicht im Sozialgesetzbuch Nummer 5, das wäre auch nicht zu bezahlen. Und auch wenn die Mehrheit mit Sicherheit das System nicht missbraucht und nicht missbrauchen will, wissen doch viele nicht, was sie am besten tun sollten. Und man ist als Patient nicht immer in der Lage zu entscheiden, was ist jetzt der beste Arzt, die beste Ärztin für mich. Mir mag zwar der Rücken wehtun, aber ist deswegen der Orthopäde gleich der Richtige, könnte es nicht von der Niere kommen etc. Es gibt so viele Gründe, warum es sinnvoll ist, zuerst zum Hausarzt, zur Hausärztin zu gehen. Die müssen dann auch diagnostizieren und behandeln, die Kapazitäten haben, das zu tun. Und über die Ausnahmen hatte ich schon gesprochen, über die Dinge, die wir nicht zusätzlich beregeln müssen. Entscheidend also Ehrlichkeit der Politik Richtung Patientinnen und Patienten. Und wenn wir ein solches System haben, dann Verbindlichkeit im System. Ein System mit Versicherungstarifen, so will ich es jetzt mal vereinfacht nennen, nützt nur dann was, wenn auch die versicherte Person daran gebunden ist. Wenn die sich nicht darum kümmern muss, dann hat das System auch keinen Sinn.
Wie sieht der Zeitplan aus?
Wir haben im Terminplan des Bundesministeriums, der inzwischen vorliegt, gesehen, dass dort das Thema Primärarztsystem an letzter Stelle steht auf der Liste und noch ohne tatsächlich irgendwelche Termine und Fristen genannt zu haben. Und insofern können wir davon ausgehen, es steht im Koalitionsvertrag, man wird sich damit befassen. Die Ministerin hat bereits öffentlich auch schon gesagt, das sei ein hochkomplexes Thema, da kann ich ihr nur zustimmen, das ist es. Da gibt es keine schnellen und leichten Lösungen. Und wir sollten, wenn wir das machen, eine gute Lösung haben, denn es muss für die Praxen händelbar sein, es muss zukunftssicher sein und es muss von Patientinnen und Patienten auch verstanden werden.