Logo-KBV

KBV Hauptnavigationen:

Sie befinden sich:

 
Stand 09.05.2016

Positionen

Stellungnahme von KBV und acht Berufsverbänden zur Weiterentwicklung von PEPP (Pauschaliertes Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik)

Überwindung von Sektorengrenzen – Versorgung von Patienten in der Häuslichkeit sektorenübergreifend sicherstellen und ausbauen

Um die Versorgung von psychisch kranken Patienten in der Häuslichkeit sicherzustellen und auszubauen, ist ein sektorenübergreifendes Versorgungskonzept nötig. Hometreatments ausschließlich durch Krankenhäuser zu organisieren, ohne die Beteiligung der vertragsärztlichen und –psychotherapeutischen Berufsgruppen, widerspricht grundlegend einer sektorenübergreifenden Integration der Behandlung psychisch Erkrankter.

Der Berufsverband Deutscher Nervenärzte (BVDN e.V.), Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN e.V.), Berufsverband Deutscher Psychiater (BVDP e.V.), Berufsverband für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (BKJPP e.V.), Spitzenverband ZNS, Bundesverband der Vertragspsychotherapeuten (bvpp e.V.), Berufsverband der Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie Deutschlands (BPM e.V.), die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung (DPtV e.V.) sowie die Kassenärztliche Bundesvereinigung:

  • fordern den Gesetzgeber auf, alle maßgeblichen Akteure der Selbstverwaltung mit der zeitnahen Entwicklung eines entsprechenden sektorenübergreifenden Versorgungsauftrages, unter Einschluss des Hometreatments, zu beauftragen,
  • bieten ihre Unterstützung bei der Erarbeitung eines solchen Versorgungskonzeptes an,
  • lehnen eine rein sektorale Weiterentwicklung der ambulanten Versorgung durch Krankenhäuser im Interesse ihrer Patienten ab.


Diese Forderungen werden wie folgt begründet:

Welche Arztgruppen versorgen neurologisch und psychisch kranke Menschen ganz zentral?

Die Versorgung von Patientinnen und Patienten aus dem Formenkreis der neurologischen und psychischen Erkrankungen hat in den letzten Jahren einen erheblichen Wandel vollzogen:

Im Jahr 1970 gab es in Deutschland weniger als etwa 1000 vertragsärztlich tätige Nervenärzte. Heute sind ca. 6750 Nervenärzte, Neurologen, Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie und Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sowie 6084 Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie und Ärztliche Psychotherapeuten in der ambulanten Versorgung tätig. Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten nehmen mit einer Zahl von 22547 an der vertragsärztlichen Versorgung teil.

Insgesamt stellen also mehr als 12 850 Ärzte und mehr als 22 500 Psychologische Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten die ambulante Versorgung von Menschen mit psychischen Störungen sicher .

Die Psychiatrie-Enquete 1972 markierte eine Zäsur in der bis dahin aufgrund fehlender Therapiemöglichkeiten eher custodial- dauerhospitalisierenden Versorgung und prägte den Begriff „ambulant vor stationär“. Seither wurden mehr als 60 % der stationären Krankenhausbetten in der Psychiatrie abgebaut. Dies war ein historischer Wendepunkt in der Versorgung, der jedoch einen entsprechenden Transfer von Ressourcen aus dem stationären in den ambulanten Sektor vermissen ließ.

Die Weiterbildungsordnung für Nervenärzte trug im Jahr 1995 der rasanten Entwicklung des Faches ebenfalls Rechnung. Der „Nervenarzt alt“, der mit einer 5jährigen Weiterbildungszeit in den Gebieten Neurologie und Psychiatrie ausgebildet wurde, wich den beiden Einzelfachärzten für Neurologie und für Psychiatrie und Psychotherapie.

 Diese Einzelgebiete sind heute ebenfalls in 5jähriger Weiterbildungszeit zu erlangen. In die Weiterbildungszeit in der Psychiatrie wurde eine vollumfängliche Ausbildung zum Psychotherapeuten integriert. „Nervenarzt neu“ beschreibt die Möglichkeit, beide Facharzttitel in einer Weiterbildungszeit von acht Jahren zu erwerben. Davon macht eine zunehmende Zahl der Kollegen Gebrauch, heute verfügen ca. 750, also etwa 13,2% der Nervenärzte, Neurologen und Psychiater über eine doppelte Facharztbezeichnung.

Seit 1968 besteht das Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie als eigenständiges Fachgebiet mit einer eigenen Weiterbildungsordnung. 1992 wurde die Psychotherapie in die Musterweiterbildungsordnung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie integriert.

Die Zahl der tätigen Fachärzte ist kontinuierlich gewachsen, inzwischen sind über 1000 Fachärzte in der ambulanten fachärztlichen Versorgung tätig. Durch die Sozialpsychiatrievereinbarung können in den Praxen multiprofessionelle Teams tätig werden, in denen neben den Fachärzten Sozialpädagogen, Heilpädagogen, Diplom-Psychologen und andere entsprechende Berufsgruppen arbeiten, so dass Strukturen, die sonst nur in Institutsambulanzen abgebildet werden, regelhaft in der Versorgung durch die Praxen vorgehalten werden.

1992 wurde das ärztliche Leistungsspektrum um das Fachgebiet Psychotherapeutische Medizin ergänzt, das ab 2003 zur Führung der Bezeichnung „Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ berechtigt. Nach fünfjähriger Weiterbildung widmen sich entsprechend qualifizierte Ärzte schwerpunktmäßig der Behandlung von Patienten mit psychosomatischen Erkrankungen und funktionellen Störungen.

1967 wurden mit der Einführung der Psychotherapie als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung völlig neue Behandlungsmöglichkeiten etabliert. Zunächst beschränkt auf Ärzte und psychoanalytisch geprägte Vorgehensweisen, konnten seit 1972 auch Diplom-Psychologen mit analytischer Ausbildung im Delegationsverfahren an der Versorgung teilnehmen. 1987 wurde die Verhaltenstherapie in die Psychotherapie-Richtlinie aufgenommen.

1999 wurde mit dem Psychotherapeutengesetz die Ausbildung der Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten gesetzlich geregelt und diese ins Versorgungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung aufgenommen.

In der neurologischen Versorgung konnten zwischenzeitlich erfolgreiche Therapieformen etabliert werden, die für bislang wenig zugängliche Indikationen mit schlechter Prognose deutliche Verbesserungen erzielen können. Exemplarisch sind die verbesserten und differenzierten Behandlungsmöglichkeiten bei MS oder Parkinson zu benennen.


Wieviel Fälle werden behandelt?

Die genannten 12850 Psychiater, Psychosomatiker, Kinder- und Jugendpsychiater, Nervenärzte sowie Neurologen behandeln im Jahr mehr als 5 Millionen Patienten, wobei Patienten mehrfach im Jahr einen oder mehrere Gesundheitsberufe in Anspruch nehmen.

In der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie sind dies im vertragsärztlichen System ca. 380.000 Patienten, Ärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie haben 440.000 Fälle jährlich behandelt. Die Psychologischen Psychotherapeuten und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten, die mit einer Gesamtzahl von über 22 500 an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, versorgen in der ambulanten Psychotherapie ca. 3,5 Millionen Behandlungsfälle pro Jahr.

Unterstützt werden die ärztlichen Behandlungen durch Physiotherapeuten, Logopäden, Ergotherapeuten, Soziotherapeuten und durch die ambulante psychiatrische Krankenpflege, die aus einem multimodalen ambulanten Gesamttherapiekonzept nicht mehr wegzudenken sind.

Entwicklung der Patientenzahlen

Die Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul psychische Gesundheit (DEGS1–MH), durchgeführt durch das Robert-Koch Institut und im Jahr 2012 veröffentlicht zeigt, dass im Vergleich zur Vorgängerstudie, dem Bundesgesundheitssurvey mit dem Zusatzmodul

„Psychische Störungen“ (1998), keine Zunahme der Prävalenz psychischer Störungen zu verzeichnen ist. Allerdings ist die Behandlungsrate von psychischen Erkrankungen von 20 % auf 24,5 % gestiegen. Die Ursachen hierfür sind neben der Entstigmatisierung vielfältig. Es ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung davon auszugehen, dass auch in den nächsten Jahren der Hilfebedarf steigen wird. Im Interesse einer guten und dabei wirtschaftlichen Versorgung ist deshalb die Definition der Versorgungsaufträge der an der Versorgung relevant beteiligten Gesundheitsberufe und Einrichtungen weiter zu entwickeln und den Versorgungsbedarfen anzupassen.

Lt. Untersuchungen des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen können bei jedem fünften Kind (20,2 Prozent) zwischen 3 und 17 Jahren Hinweise auf psychische Störungen festgestellt werden. Bei 12,4 Prozent der Kinder und Jugendlichen mit psychischen Auffälligkeiten sind zusätzlich deutliche bzw. massive Beeinträchtigungen im sozialen und familiären Alltag zu verzeichnen.

Problemlage Behandlungskoordination

Moderne Behandlungsansätze sind multimodal und erfordern oftmals kooperative und multiprofessionelle Behandlungsansätze. Auch die Anzahl der an der Versorgung beteiligten Gesundheitsfachberufe erfordert einen, auch durch immer komplexer werdende Versorgungsstrukturen gestiegenen Bedarf an Kooperation und Koordination.

Unzureichende Abstimmung der den gleichen Patienten behandelnden Ärzte und Psychotherapeuten führt zu einer unwirtschaftlichen Verwendung knapper Zeit- und Finanzressourcen und geht mit Qualitätsproblemen (Beispiel: Arzneimitteltherapiesicherheit) einher. Gleichzeitig muss festgestellt werden, dass weder der heutige und viel weniger noch der künftige Versorgungsbedarf in den derzeit üblichen Strukturen einer sektoral getrennten Versorgung bewältigt werden kann.

Vorhandene Lösungsansätze

Losgelöst von der Sektorenanlage sind zunächst die Versorgungsprobleme zu benennen, Lösungswege zu definieren und dann in zweiter Näherung die Frage zu stellen, ob es sich um eine rein ambulante oder stationäre Leistung handelt. Der Gesetzgeber hat im Übrigen Krankenhäusern die Teilnahme an der ambulanten Versorgung schon auf vielfältige Weise ermöglicht:

Für die Behandlung früher langzeithospitalisierter, „nicht wartezimmerfähiger Patienten“ (§118 Abs. 1 u. 2) wurden Psychiatrische Institutsambulanzen zugelassen, Hochschulen können zusätzlich Hochschulambulanzen betreiben, in sozialpädiatrischen Zentren können Kliniken zielgruppenspezifische Angebote unterbreiten.

Tagesklinische Behandlungskonzepte erlauben eine intensivierte Behandlung genauso wie die Vorhaltung von Medizinischen Versorgungszentren oder Wahrnehmung von Ermächtigungen. Die hervorragend bewährte Struktur der Sozialpsychiatrievereinbarung in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Versorgung hingegen wurde im Bereich der Erwachsenenpsychiatrie nicht etabliert und wartet auf eine Übertragung.

Definition des Versorgungsbedarfs:
Handlungsleitend bei der Weiterentwicklung der Versorgung sollte dabei die Definition des Versorgungsbedarfs für den Patienten sein, sowie die korrespondierende Beschreibung der Versorgungsstruktur, die diesen auffangen soll. Dabei sollten Vertragsärzte/Vertragspsychotherapeuten (wie auch ggf. Krankenhäuser), sofern sie die Bedingungen erfüllen, im Interesse einer flächendeckenden, bundesweiten Versorgung die erforderlichen Leistungen überall dort, wo erforderlich, erbringen.

Rein sektoral angelegte Versorgungskonzepte sind rückwärtsgewandt, diesen sollte eine Absage erteilt werden. Im Vordergrund stehen multiprofessionelle Ansätze, die Patienten mit neurologischen und psychischen Erkrankungen umfassend und in allen relevanten Lebensdimensionen unterstützen und stabilisieren.

Innovatives Versorgungskonzept

Vertragsärzte und –psychotherapeuten haben deshalb zunächst für den Erwachsenenbereich ein Versorgungskonzept entwickelt, das neben der Klärung der erforderlichen Qualifikation verbindliche Regelungen zur Kooperation und zeitnahen Überweisung sowie patientenorientierte Steuerung im lokalen Verbund vorsieht.

Ziel ist es, Patienten zeitnahe Termine in einer Akutsprechstunde anzubieten, eine zeitnahe Diagnostik zu ermöglichen, und zwar durch Allokationsregeln dort, wo die für den jeweiligen Patienten benötigte Expertise zur Verfügung steht. Koordinationsgespräche und verbindliche weitere Zuständigkeit in der Betreuung und Koordination komplexer Therapien können Umwege, Zeitverlust und unnötige Maßnahmen vermeiden.

Dies entspricht der Philosophie der Lotsenfunktion im hausärztlichen Bereich, die durch das kooperative Versorgungsprojekt gestärkt werden soll durch morbiditätsspezifische komplementäre Koordination der fachärzlich/psychotherapeutischen Versorgung. Dabei sollen Patienten nur so lange in der fachärztlichen Versorgungsebene verbleiben, wie Krankheitsverlauf und Therapieregime dies unbedingt erfordern.

Die Aufgaben der Koordination liegen neben der persönlichen Erbringung diagnostischer und therapeutischer Leistungen im Rahmen der Akutsprechstunde in der Patientenbegleitung. Dazu gehört neben Beratung und Aufklärung des Patienten und seiner Angehörigen auch die Einleitung weiterer erforderlicher diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen und Kontrollen sowie komplementärer und flankierender Maßnahmen. In dieses Modell können mühelos Behandlungsvarianten mit Home-treatment integriert werden.

Somit ist dieses Konzept anschlussfähig an die stationäre Versorgung oder aber auch in Modelle der gemeindepsychiatrischen Versorgung hinein. Bundesweit verbindliche und kassenartenübergreifende Rahmenbedingungen hierfür können auf dem Wege einer bundesmantelvertraglichen Anlage erfahrungsgemäß nur dann geschaffen werden, wenn der Gesetzgeber hierzu einen zweckgebundenen Auftrag erteilt.

Die Integration des Hometreatments in die Strukturen der Gesetzlichen Krankenversicherung sollte deshalb obligatorisch mit einem sektorenübergreifenden Ansatz verbunden werden. Hierfür stehen verschiedene und bewährte Vertragsrahmen zur Verfügung: entweder auf dem Boden der Dreiseitigkeit von Vereinbarungen, ein Weg wie er beispielweise bei geriatrischen Institutsambulanzen gewählt wurde (§118a SGB V) oder dem der stationsersetzenden Leistungen (§115b SGB V) oder der ambulanten spezialfachärztlichen Versorgung (§116b SGB V).

Unbenommen davon kann der erforderliche Vertragsrahmen einschließlich der dazugehörigen Qualitätsanforderungen im Rahmen einer Richtlinie im Gemeinsamen Bundesausschuss entwickelt werden.

Keine Fortschreibung von Sektorengrenzen

Die Definition von Versorgungsstrukturen in der Häuslichkeit der Patienten ohne Beteiligung der vertragsärztlichen/vertragspsychotherapeutischen Regelversorgung, wie derzeit im Bereich des Hometreatments angedacht, ist wiederum unwirtschaftlich und führt zu weiteren qualitätsmindernden Versorgungsbrüchen an den Schnittstellen in die Regelversorgung.