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Stand 23.09.2022

Reden

Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich begrüße Sie zu unserer heutigen Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) in Berlin. Noch sitzen wir hier glücklicherweise in einem recht warmen und gut beleuchteten Raum. Doch die Lage ist ernst: Die ersten Energiesparmaßnahmen sind beschlossen und für den Winter bereitet uns die Bundesregierung auf drohende Gas- und Stromengpässe vor. Ja, sie warnt gar vor zeitweisen Komplettausfällen. Der bayerische Gesundheitsminister, Herr Holetschek, hat eindringlich vor einem „Blackout des Gesundheitswesens“ gewarnt. Er bezog sich dabei auf Krankenhäuser, Reha- und Pflegeeinrichtungen. Lieber Herr Holetschek, Sie wissen, auch in vielen Arztpraxen, gerade in denen mit hohem Stromverbrauch – wie zum Beispiel Radiologie-, Strahlentherapie- und Dialysepraxen – könnte bald das Licht ausgehen.

Wir wissen Herrn Holetschek und andere Landesgesundheitsminister auch bei einem weiteren Thema an unserer Seite. Vor genau zwei Wochen haben wir hier im Rahmen einer Sondersitzung gegen die Sparpläne der Bundesregierung und damit einhergehende Leistungskürzungen für gesetzlich Versicherte protestiert. Die niedergelassene Ärzte- und Psychotherapeutenschaft hat unserem Bundesgesundheitsminister 50.000 Unterschriften gegen die Abschaffung der Neupatientenregelung zukommen lassen. Außerdem wurden mehrere Hundert Zuschriften von Haus- und Fachärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, in denen diese die zunehmend schwierigen Arbeitsbedingungen beschreiben und ihren Frust, teilweise auch Resignation artikulieren, an das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) weitergereicht.

Diese Signale, sehr geehrter Herr Lauterbach, sollten Sie ernst nehmen. Die Zeit von Symbolpolitik ist vorbei. Jetzt zählen die Fakten.

Die Bereitschaft der Ärzte- und Psychotherapeutenschaft, bei Wegfall der Neupatientenregelung auch persönliche Konsequenzen zu ziehen, scheint hoch wie lange nicht. Eine aktuelle Umfrage der Ärzte Zeitung bringt deutliche Ergebnisse, sechs von zehn Niedergelassenen ziehen demnach in Erwägung, ihre Praxis aus Protest zu schließen. Des Weiteren spricht sich fast jeder Dritte dafür aus, Patientinnen und Patienten auf das Problem aufmerksam zu machen und sie für unseren Protest zu mobilisieren.

Gerade in diesen Minuten läuft nicht weit von hier im Deutschen Bundestag die erste Lesung des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes, zu dem auch die Streichung der Neupatientenregelung und damit der extrabudgetären Finanzierung für entsprechende Leistungen gehört. Der offenkundig vernunftgetriebene Bundesrat hat bereits am 16. September gegen die Abschaffung der Neupatientenregelung votiert. Hier gab es offensichtlich eine parteienübergreifende Einigkeit. Wir haben die Mitglieder des Gesundheitsausschusses des Bundestages gesondert angeschrieben und deutlich auf die Folgen einer Abschaffung der Neupatientenregelung hingewiesen, verbunden mit dem Appell, das Votum der Länderkammer im Parlament zu unterstützen.
Gesundheitsminister Lauterbach, übrigens der damals vehementeste Verfechter der Neupatientenregelung, behauptet aktuell, es gebe keine Zahlen, die ihre Wirksamkeit belegen. Diese Aussage hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung (Zi) widerlegt: Im vierten Quartal 2021 wurden 20 Millionen Neupatientinnen und -patienten in den Praxen behandelt, das sind zwölf Prozent mehr als im selben Quartal 2019, als die Regelung noch nicht galt. Das bedeutet, jeder vierte gesetzlich versicherte Patient hat von dieser Regelung profitiert. Aber das scheint den Minister, der sonst doch so viel von Statistiken hält, nicht zu überzeugen. Er hat stattdessen angeboten, gemeinsam an einer „besseren Lösung“ zu arbeiten. Hierfür stehen wir selbstverständlich gerne zur Verfügung, vorbehaltlich einer Evaluation der jetzigen Regelung. Bis es eine möglicherweise bessere Lösung gibt, müssen wir die bisherige Regelung aber auf jeden Fall beibehalten.

Der Minister hat die Streichung der Neupatientenregelung ja damit begründet, dass auch die Vertragsärzte- und -psychotherapeutenschaft einen Beitrag zu Stabilisierung der Finanzen der gesetzlichen Krankenversicherung leisten müsse. Mit Verlaub, Herr Minister: Diesen Beitrag leisten wir seit 30 Jahren!
Seitdem die Budgetierung in der vertragsärztlichen Versorgung eingeführt wurde – also seit 1993 – gewähren wir den Krankenkassen einen Dauerrabatt auf unsere ärztliche und psychotherapeutische Arbeit. Dieser Dauerrabatt summiert sich mittlerweile auf einen Betrag von zig Milliarden Euro. Hier ständig neue Solidaropfer der Praxen zu verlangen, zeugt von einer Verzerrung der Sachlage. Die aktuelle Lage ist aber viel zu ernst, um sich einer derartigen Realitätsverweigerung hingeben zu können.

Selbst wenn dieses GKV-Finanzstabilisierungsgesetz – gemäß dem berühmten Struck’schen Gesetz – nicht in gleicher Form aus dem Bundestag herauskommt, wie es hineingegangen ist: Es wird nicht der letzte Versuch weiterer Spar- beziehungsweise Kürzungsmaßnahmen in der ambulanten Versorgung sein. Und auch diese werden letztendlich die Patientinnen und Patienten in Form von Leistungskürzungen zu spüren bekommen, alles andere ist doch Augenwischerei.

Deshalb mutet es ja auch geradezu grotesk an, dass der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherung sein ursprüngliches „Nicht-Angebot“ in Höhe von null Prozent bei den Verhandlungen über die Entwicklung des Orientierungswertes für die Preise ärztlicher und psychotherapeutischer Leistungen damit begründet hat, es handele sich um Beitragsgelder der Versicherten. Liebe Kassen, wofür zahlen eure Mitglieder denn die Beiträge? Doch für eine gute Versorgung. Machen Sie doch einfach mal eine kleine Umfrage bei den Beitragszahlenden, wofür sie lieber zahlen würden: Für die gerade avisierte Erhöhung der Verwaltungskosten bei den Krankenkassen oder dafür, dass Arbeit und Betrieb der Praxen besser bezahlt werden?
Auch wenn der GKV-Spitzenverband sich mit seiner anfänglichen Totalverweigerung im Erweiterten Bewertungsausschuss nicht durchsetzen konnte, ist das Ergebnis einer Steigerung des Orientierungswertes um zwei Prozent dennoch ein Zugeständnis an die Kassen und ein Schlag ins Gesicht der Niedergelassenen. Deshalb hat die KBV sich auch mit aller Kraft gegen diesen Beschluss gestemmt. Der GKV-Spitzenverband hat im Nachgang wieder seine eigene Mathematik angewendet und spricht von rein rechnerisch 11.000 Euro zusätzlichem „Honorar“ für jeden Arzt und jede Ärztin. Das klingt, als könnten die Kolleginnen und Kollegen damit nach Hause gehen und sich ein schönes Leben machen. Tatsächlich entspricht dieser Betrag nicht einmal den zu erwartenden steigenden Betriebskosten. Ganz abgesehen davon, dass der individuelle Vergütungsanstieg natürlich je nach Leistungsumfang und Fachgruppe sehr unterschiedlich ausfallen kann. Laut Berechnung des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung (Zi) bringt die Anpassung des Orientierungswerts den Praxisinhaberinnen und -inhabern jeweils rund 5.200 Euro. Allein für die tarifbedingte Anpassung der Mitarbeitenden-Gehälter mussten diese im vergangenen Jahr, wie auch in Vorjahren, aber bereits rund 5.400 Euro aufwenden. Unterm Strich werden die Praxen für das laufende Jahr erneut draufzahlen. Mit der Konsequenz, dass viele ihr Leistungsangebot für die Versicherten werden zurückfahren müssen.

Abgesehen von der Verweigerungshaltung der Spitzenvertreter der Krankenkassen, elementare Sicherstellungsbedarfe anzuerkennen, ist spätestens jetzt klargeworden, dass auch die Berechnungssystematik des Orientierungswertes und die ihr zugrundeliegende Regelung des Paragrafen 87 Absatz 2g des Sozialgesetzbuchs (SGB) V aus der Zeit gefallen ist. Die Vorgabe, dass nur die Kostenentwicklung aus den zurückliegenden Jahren – in diesem Fall von 2020 auf 2021 – zu berücksichtigen ist, führt zu einer massiven Unterdeckung der tatsächlich auflaufenden Kosten. Ein Inflationsausgleich mit zweijähriger Verspätung ist in Zeiten wie diesen nicht akzeptabel. Wenn das Geld erst 2024 bei den Praxen ankommt, ist es zu spät. 

Naheliegend ist die Frage, ob man einen derartigen Beschluss des Erweiterten Bewertungsausschusses beklagen sollte. Wir werden das juristisch prüfen und die Beschreitung des Klagewegs eruieren. Unabhängig von etwaigen rechtlichen Schritten ist aber klar, dass wir uns politisch deutlich positionieren: Selbstverständlich dürfen nicht nur Krankenhäuser gegen die Folgen der Inflation geschützt werden – wie dies die CDU gerade beantragt –, sondern auch die Niedergelassenen: Wir bieten nicht nur Hunderttausende von Arbeitsplätzen, sondern sind der zentrale Versorger der Bevölkerung. Das muss geschützt werden!

Das Problem der immens gestiegenen und weiter steigenden Energiekosten werden wir mit den Krankenkassen noch intensiv verhandeln. Vor allem für die schon erwähnten energieintensiven Fachgruppen muss unbedingt so schnell wie möglich ein Ausgleich erfolgen. Aber auch alle anderen Praxen kämpfen mit enorm steigenden Energiekosten und wie wir sehen konnten, deckt die karge Orientierungswert-Erhöhung das nicht mal im Ansatz ab. Hierzu haben wir uns zusätzlich sowohl an unseren Bundesgesundheitsminister als auch an Wirtschaftsminister Robert Habeck gewandt. Es besteht sicherlich kein Zweifel: Unsere Praxen sind Teil der systemrelevanten kritischen Infrastruktur. Das erkennt auch die Bundesnetzagentur an, die Einrichtungen des Gesundheitswesens, darunter Arztpraxen, im Falle einer nationalen Gasmangellage zu den sogenannten geschützten Kunden zählt.

Die Bundesregierung scheint hingegen erstaunlicherweise gar keine rechte Vorstellung zu haben, was Arzt- und Psychotherapeutenpraxen im Kern eigentlich sind. Anders sind die Fragen des BMG an die KBV zum Energieverbrauch der Praxen kaum zu interpretieren: Da wird tatsächlich gefragt, wie hoch der Gasverbrauch der Praxen war, ob Einschränkungen von 20 bis 30 Prozent möglich seien und ob der Energieträger gegebenenfalls gewechselt werden könne.

Liebe Politik, bei unseren Praxen handelt es sich in der Regel um inhabergeführte Unternehmen, die an unterschiedlichsten Standorten meist zur Miete in unterschiedlichsten Immobilen ansässig sind. Natürlich weiß niemand, welche Energieträger diese Praxen in den einzelnen Immobilien nutzen und ob der jeweilige Eigentümer diesen gegebenenfalls wechseln will. Aber eines wissen wir sicher: Wir können unsere Patientinnen und Patienten im Winter nicht in ungeheizten Räumen behandeln. Wir können auch elektrische Geräte wie Röntgenanlagen, Dialysegeräte, Sterilisatoren et cetera nicht einfach abschalten. Das sind doch absurde Forderungen einer kopflos agierenden Politik. Es handelt sich dabei ja nicht um eine Komfortausstattung, auf die man zur Not auch mal verzichten kann und einfach einen Pulli mehr anzieht, sondern um das Grundinventar, um unsere Patientinnen und Patienten zu versorgen. Es käme ja auch keiner auf die Idee, den Bäckermeister zu fragen, ob er seinen Backofen nicht mal ausgeschaltet und die Brötchen einfach ungebacken verkaufen kann.

Noch mal: Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten gehören zur kritischen Infrastruktur. Die Praxen sind das Rückgrat der medizinischen Versorgung in unserem Land. Die Politik steht gegenüber unseren Patientinnen und Patienten in der Verantwortung, dass unsere Praxen ausreichend Energie erhalten. Zudem fordern wir als KV-System von der Politik nachdrücklich, dass wir – analog zu den Krankenhäusern – auch zeitnah Hilfsprogramme zur Finanzierung unserer Energieversorgung erhalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das bringt mich zu dem weiteren Krisenthema, um das es gegenwärtig etwas ruhiger geworden ist: Corona. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat kürzlich vom „nahen Ende“ der Pandemie gesprochen, die Zahl der gemeldeten Todesfälle sei Anfang September so niedrig gewesen wie seit März 2020 nicht mehr. Damit ist das zeitnah bevorstehende Ende der Pandemie sozusagen amtlich. Lediglich die chinesische Führung und Corona-Minister Karl Lauterbach sehen das offensichtlich anders.

Selbst Christian Dosten sagte am 10. September in der Süddeutschen Zeitung: „Eines ist geschafft: Die große Krankheitslast ist beseitigt. Die Infektionssterblichkeit, die in Deutschland mal bei 1,5 Prozent lag, ist durch Impfungen und überstandene Infektionen wahrscheinlich um den Faktor 20 bis 30 gesenkt. Damit liegen wir im Bereich einer deutlichen Influenzasaison. Aus Sicht des Individuums ist die pandemische Gefahr – also, dass ich als Mensch daran sterbe – somit für die meisten vorbei.“ Wichtig bleibt nach wie vor das Impfen sowie gegebenenfalls Schutzmaßnahmen für diejenigen, die sich nicht selbst schützen können. Die allermeisten, vernunftbegabten Menschen haben doch in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren verstanden, wie und wann sie sich individuell am besten schützen. Fast die ganze Welt schüttelt ja mittlerweile den Kopf, dass nur die Deutschen offenbar immer noch einer Obrigkeit bedürfen, die ihnen sagt, wie sie sich zu verhalten haben. Und dabei kommen dann auch noch so erratische Vorschriften raus wie die zur Maskenpflicht.

Damit eine FFP2-Maske ihre volle Schutzwirkung überhaupt entfalten kann, ist das Tragen an so viele Voraussetzungen geknüpft, dass medizinische Laien diese im Alltag – etwa bei einer längeren Zugreise – praktisch niemals einhalten können. Selbst auf der Webseite des Robert-Koch-Instituts kann man lesen, dass ein höherer Schutz vor Infektion durch FFP2-Masken gegenüber normalen OP-Masken für Laien in Alltagssituationen nicht gegeben sei. Zudem sollten wir die arbeitsmedizinischen Implikationen nicht völlig außer Acht lassen. Wenn der Arbeitsschutz Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die eine FFP2-Maske tragen müssen, vorschreibt, nach 1,5 Stunden eine Zwangspause von 30 bis 45 Minuten einzulegen, weil FFP2-Masken den Atemwiderstand erhöhen, kann man sich die Folgen einer solchen Regelung für Beschäftigte im Gesundheitswesen oder im Öffentlichen Personenverkehr et cetera leicht ausmalen. Dies wie gesagt in einer Phase, in der die Pandemie als solche fast überall auf der Welt als beendet angesehen wird. Nur in Deutschland gibt es bei einigen immer noch eine geradezu obsessive Haltung zu Corona, die mit wissenschaftlicher Erkenntnis nicht mehr wirklich viel zu tun hat. Man könnte, wäre man boshaft, fast unterstellen, dass, solange die Corona-Karte gespielt werden kann, die wirklich drängenden Probleme im Gesundheitswesen nicht mehr so auffallen.

Statt also ständig Corona-Regelungen zu erlassen, die kein Mensch mehr nachvollziehen kann, sollte der Staat sich lieber darauf konzentrieren die Voraussetzungen zu schaffen, damit die Bürgerinnen und Bürger sich selbst mit Maßnahmen schützen können, deren Wirksamkeit gesichert und gewährleistet ist. Beispielsweise indem die Praxen denjenigen, die sich eine weitere Booster-Impfung holen möchten, diese auch verlässlich anbieten können. Doch auch bei den angepassten neuen Impfstoffen gibt es schon wieder Lieferschwierigkeiten, trotz anderslautender Versprechungen. Man könnte auch sagen: Und täglich grüßt das Murmeltier.

Als KBV starten wir diese Woche eine Info-Kampagne, mit der wir auch noch einmal auf die Bedeutung der Grippeschutzimpfung aufmerksam machen. Dabei weisen wir auf die Vorteile hin, sich diese – auf Wunsch auch in Kombination mit einer Covid-19-Schutzimpfung – in einer Praxis geben zu lassen. Ab dieser Saison dürfen ja auch die Apotheken flächendeckend gegen Influenza impfen. Sie werben damit, dass vor allem jüngere Menschen, die keinen Hausarzt haben, sich dort unkompliziert im Vorbeigehen impfen lassen können, quasi Impfen to go. Aber gerade ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen, für die die Impfung vor allem empfohlen wird, sollten besser zu einem Arzt oder einer Ärztin gehen, um die medizinischen Aspekte abzuklären. 

Patientinnen und Patienten sind eben keine Kundinnen und Kunden, auch wenn der Begriff der „pharmazeutischen Dienstleistungen“, die Apotheken nun verstärkt anbieten wollen, dies suggeriert. Man reibt sich schon verwundert die Augen darüber, dass Leistungen, die bislang ausschließlich Ärztinnen und Ärzten oder zumindest medizinischem Fachpersonal vorbehalten waren, jetzt auf einmal nicht nur am Apothekenschalter „verkauft“ werden dürfen, sondern dies auch noch wesentlich besser bezahlt wird. Nach dem Motto: Wenn das Verkaufen von Arzneimitteln nicht mehr genug Geld abwirft, dann holt man es sich halt über die extra vergütete Medikationsberatung wieder rein.

Die Inkonsequenz der aktuellen Gesundheitspolitik geht aber noch weiter. Auf der einen Seite beklagt sie das hohe Defizit der gesetzlichen Krankenversicherung und mahnt, dass deshalb jetzt alle den Gürtel noch enger schnallen müssten – und auf der anderen Seite wirft die Bundesregierung mit vollen Händen Geld für fragwürdige Doppel- und Parallelstrukturen raus. Oder besser gesagt: minder qualifizierte Ersatzstrukturen. Karl Lauterbach hat den Apothekerinnen und Apothekern bereits weitere Aufgabenzuwächse versprochen. Das Dispensierrecht stehe hingegen nicht zur Debatte, wird der Minister zitiert. 

Wenn das eigentliche Ziel dieser Ampelregierung eine „Versorgung light“ für GKV-Patienten nach amerikanischem oder australischem Vorbild ist, dann sagen wir als KV-System klar Nein. Mit Impfungen und Blutdruckmessungen im Einkaufszentrum, einer Nurse statt einer Hausärztin oder den Fantasiegebilden von Gesundheitskiosken – dem neuesten unternehmerischen Erfolgsmodell nach den Testzentren „made in BMG“ – sind wir auf einem amerikanischen Weg. Wenn die Bundesregierung dies will, dann sollte sie das auch offen kommunizieren, aber nicht als „Stärkung der ambulanten Versorgung“ verkaufen, wie es noch vollmundig im Koalitionsvertrag heißt. Zumindest muss der Gesetzgeber sagen, welche Art von Versorgung das sein soll – die ärztliche scheint jedenfalls nicht gemeint zu sein. In den nächsten fünf bis zehn Jahren werden Zehntausende niedergelassene Ärztinnen und Ärzte in den Ruhestand gehen. Wer soll die alle ersetzen – die neue Health Community Nurse?

Deutschland will keine Versorgung light. Am Ende wäre diese auch nicht billiger, sondern teurer. Es sei denn, wir wollen es so weit kommen lassen wie in Großbritannien, wo Menschen beim Wählen des Notrufs während der Warteschleife versterben und andere vor lauter Verzweiflung, weil sie keine Arzttermine mehr bekommen, sich mittlerweile schon selbst mit der Zange die Zähne ziehen. Apotheken können dann sicher auch nicht mehr helfen.
Es gäbe entscheidendere Themen, um die Politik sich dringend kümmern müsste, statt in der Corona-Endlosschleife zu verharren und nebenher Versorgungssubstitute zu erschaffen. Dazu gehört eine bedarfsgerechte finanzielle Ausstattung der Praxen. Die Sicherung ärztlichen Nachwuchses. Eine vernünftige Digitalisierung statt einer völlig unbrauchbaren teuren Telematikinfrastruktur, die mit sinnvoller Digitalisierung ungefähr so viel zu tun hat, wie der Waschlappen-Vorschlag von Herrn Kretschmann mit Sicherung der Energieversorgung unseres Landes. Des Weiteren die dringende Gestaltung der Ambulantisierung und eine intelligente Arbeitsteilung mit den Krankenhäusern. Und last but not least eine nachhaltige Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, statt kurzfristiger strukturzerstörender Sparmaßnahmen.

Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage: Wir brauchen dringend notwendige Reformen im Gesundheitssystem. Aber diese Reformen müssen aus der Praxis für die Praxis kommen. Diese Botschaft tragen wir unermüdlich ins BMG. Auch wenn wir uns mittlerweile schon das eine oder andere blaue Auge dabei geholt haben. 

Lieber Herr Lauterbach: Wir stehen als KV-System jederzeit zur Verfügung, um Reformen und Verbesserungen da anzugehen, wo sie sinnvoll und notwendig sind. Aber wir stehen nicht als Sündenbock zur Verfügung, wenn es am Ende heißt: Hättet ihr mal eher etwas gesagt. Dieser Weg der Unentschiedenheit und Unsicherheit führt uns direkt in eine bürokratische Staatsmedizin. Aber nicht mit uns! Dafür ist die Lage in diesem Land viel zu ernst. Daher mein dringender Appell an Sie, Herr Minister Lauterbach: Haben Sie doch endlich den Mut, die Versorgungsthemen von morgen anzugehen!

Wir stehen bereit. Denn wir als niedergelassene Ärzteschaft sind und leben die Versorgung von morgen.

Vielen Dank.

 

(Es gilt das gesprochene Wort)