Logo-KBV

KBV Hauptnavigationen:

Sie befinden sich:

 

Reden

Bericht von Dr. Stephan Hofmeister an die Vertreterversammlung

Sitzung am 3. Dezember 2021

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

es ist schwer erträglich: Nach mehr als eineinhalb Jahren mit dem Coronavirus stolpern wir erneut in einen Winter ohne Plan und Ziel. Als hätten wir nichts gelernt!

Das ist unfassbar und entsetzlich für die Bevölkerung, aber eben auch und in besonderer Weise für alle im Gesundheitswesen Tätigen, die seit anderthalb Jahren im Ausnahmezustand arbeiten – zusätzlich zu ihren privaten und familiären Belastungen durch die Corona-Maßnahmen und zusätzlich zur selbstverständlich weiter erforderlichen Versorgung aller Patientinnen und Patienten mit ernsten Erkrankungen, die nicht weniger geworden sind.

Sie alle leisten Großartiges, die Menschen im Lande wissen das. Ob es die Politik auch weiß oder wertschätzt, da bin ich mir nicht immer sicher.

Die ambulante Versorgung in den Praxen durch die Kolleginnen und Kollegen und ihre großartigen Teams ist von Anfang an das Bollwerk gegen einen pandemiebedingten Kollaps des Gesundheitswesens gewesen und sie ist es immer noch.

Die weit überwiegende Zahl aller Patientinnen und Patienten mit COVID-19 ist in den Praxen gesehen und versorgt worden. Getestet wurde in den Praxen, und erst als die Praxen endlich ins Spiel kamen, nahm das Impfen richtig Fahrt auf und wurde zum Impfturbo.

Vor allem aber haben sie unermüdlich die besorgten, durch die Kommunikation in Politik und Medien oft verängstigten und teilweise geradezu verstörten Bürgerinnen und Bürger immer und immer wieder in Gesprächen aufgefangen. Jede politische Zick-Zack-Bewegung, von denen es reichlich gab, hat hier neuen Bedarf geschaffen.

Wir, die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und die Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen), haben im Hintergrund nach Kräften unser Bestes getan, damit niemand bei dieser Achterbahnfahrt aus der Kurve fliegt. Unser Rat war oft gefragt, trotzdem wurden bei politischen Entscheidungen immer wieder theoretische und fachfremde akademische Modelle der praktischen Erfahrung in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung vorgezogen.

Das Ergebnis haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, jeweils am eigenen Leibe erlebt. Unsere Arbeit gleicht mittlerweile einem Kampf gegen Windmühlen. Und zwar gegen die politischen Mühlen, die am laufenden Band neuen regulatorischen Wind produzieren und immer neue Botschaften senden, die hinten und vorne nicht zusammenpassen und die man selbst mit viel gutem Willen auch nicht mehr überein bekommt. 

Wenn es eine Konstante in diesen anderthalb Jahren gab, dann die, dass sich am Hü und Hott der Politik nichts ändert. Im Gegenteil. Wir haben es nicht nur mit einer Gesundheitskrise, sondern mittlerweile auch mit einer Kommunikationskrise zu tun. Jüngstes Beispiel, Ihnen allen bestens bekannt:

Die angekündigte erneute Rationierung des BioNTech/Pfizer-Impfstoffs. Verbunden zuerst mit der Begründung, die Vorräte des Moderna-Impfstoffes drohten zu verfallen und müssten deshalb zügig und zuerst aufgebraucht werden.

Wie kommt das bei den Menschen im Land an?

Zuerst wird ihnen gesagt, die Boosterung sei jetzt die Maßnahme der Stunde, sie sollten sich so schnell wie möglich eine Auffrischimpfung holen, alle hätten einen Anspruch darauf. Dann werden die Praxen kritisiert, sie seien beim Impfen beziehungsweise Boostern nicht schnell genug.

Und in dem Moment, in dem das Impftempo rapide ansteigt, als die Impfstoffbestellungen neue Rekordwerte erreichen, in dem Moment folgt umgehend der Schuss vor den Bug. Da heißt es auf einmal, die Lager würden sich zu schnell leeren und der prominenteste Impfstoff in Deutschland würde nicht mehr für alle reichen.

Wobei diese Begründung erst auf Nachfrage kommuniziert wurde, zuerst schien das Motto zu gelten „was zuerst schlecht wird, muss zuerst weg“. Die Wirkung, sowohl bei den Praxen als auch den Bürgerinnen und Bürgern, ist verheerend!

Ganz perfide ist dann, den Schwarzen Peter wieder uns Ärztinnen und Ärzten zuzuschieben und uns vorzuwerfen, wie teilweise geschehen, wir würden ja nun Moderna schlechtreden. Das schlägt dem Fass den Boden aus! 

Um es hier deutlich zu sagen: Wissenschaftlich ist unstrittig, dass beide mRNA-Impfstoffe hoch wirksam und sicher sind und Studien legen nahe, dass sie in der Kombination sogar noch wirksamer sind. Aber so wurde der Impfstoffwechsel nicht vermittelt.

Genau das wäre aber die Mindestanforderung gewesen, wenn ein Ministerium die von ihm selbst gesetzten Ziele – alle gleichzeitig boostern und zwar so schnell wie möglich – torpediert.

Die Aufklärung und vor allem auch Beruhigung der Bürgerinnen und Bürger, die durch diese Art der Kommunikation einmal mehr und völlig nachvollziehbar verunsichert sind, bleibt wieder einmal in den Praxen hängen. Nehmen Sie nur zwei Minuten Aufklärungszeit pro Impfung durch den Impfstoffwechsel, so sind das bei 20 Millionen Impfungen über 76 Jahre Redezeit, die völlig unnötiger weise verlorengehen.

Ihre Zeit, die Zeit in der Sie impfen, Patientinnen und Patienten versorgen oder sogar vielleicht auch einmal durchatmen könnten.

Ich zitiere eine niedergelassene Kollegin: „Nicht nur in den Kliniken sind die Mitarbeitenden an der Grenze, sondern auch in unseren Praxen.“ Das sind die Worte einer Praxisärztin, die, wie hunderttausend andere auch, seit bald zwei Jahren die Achterbahnfahrt der Pandemie mitmacht und durchhält.

Uns erreichen tagtäglich Berichte von Kolleginnen und Kollegen, die sagen: „Wir wollen weitermachen, wir wollen die Menschen versorgen, aber wir können es bald nicht mehr.“ Sie berichten von Medizinischen Fachangestellten (MFA), die 20 und mehr Jahre in einer Praxis arbeiten und vor ihren Chefs weinend zusammenbrechen und schließlich kündigen.

Nicht, weil sie ihre Arbeit nicht mehr lieben oder die Patientinnen und Patienten im Stich lassen wollen, und auch nicht, weil sie das Impfen nicht schaffen würden, wie neuerdings aus der Politik kolportiert wird. Sondern weil sie es nicht mehr aushalten, Tag für Tag immer neue Regelungen erklären zu müssen, ängstliche Menschen zu beruhigen, sich teilweise beschimpfen und bedrohen zu lassen für Dinge, für die sie keinerlei Verantwortung tragen.

Und ganz „nebenbei“ Millionen von Patientinnen und Patienten mit ganz anderen Problemen auch noch versorgen zu müssen. Wir hören von MFA), die lieber ins Krankenhaus oder in die Rettungsleitstellen gehen, weil sie den Stress in den Praxen nicht mehr aushalten.

Der Frust und die Erschöpfung der Menschen und insbesondere derer, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten, sind groß und sie sind nur allzu verständlich. Und es ist absehbar, dass das Ganze noch bis zum Frühjahr weitergehen wird. 

Ich frage mich allerdings, was Aussagen wie die, dass wir „ein sehr schlimmes Weihnachtsfest“ haben werden, bewirken sollen, außer dass sie Ausdruck der eigenen Verzweiflung sind? Wenn dann auch noch vorgerechnet wird, dass bei 52.000 Infizierten am Tag 400 davon sterben würden und man daran „nichts mehr ändern könne“, dann wird Statistik zum unausweichlichen Schicksal erklärt.

Noch irreführender sind Aussagen wie „ich möchte nicht, dass auch nur ein einziges Kind stirbt“, die suggerieren, dass die Kindersterblichkeit eine erhebliche Gefahr der COVID-Infektion ist. Auch, dass COVID noch „wie Ebola werden könne“ ist eine vollkommen unsinnige und unsachliche Darstellung. Solche Äußerungen setzen einen falschen Fokus; sie appellieren nicht an die Vernunft, auch wenn sie das vorgeben, sondern sollen Existenzängste schüren.

Ich halte es gelinde gesagt für fraglich, ob das die richtige Methode ist. Im Gegenteil, es ist offensichtlich, dass die Strategie des Angstmachens gescheitert ist. Sowohl aktuelle sozialwissenschaftliche Studien als auch jede pädagogische und die eigene ärztliche Erfahrung besagen: Je mehr ich insistiere und drohe, desto größer wird im Zweifelsfall der Widerstand bei denen, die ohnehin nicht willig sind zu kooperieren.

Bei allen anderen lösen solche Aussagen schlimmstenfalls Panikreaktionen aus – und die können wir am allerwenigsten gebrauchen.

Lassen Sie mich als ehemaligen Marineoffizier ein Bild gebrauchen: Wenn ein Schiff angeschlagen in schwerer See ist und der Kapitän auf der Brücke permanent schreit „Wir werden alle sterben“, dann wird die Mannschaft weder Vertrauen noch Zuversicht haben und das Schiff wird sinken.

Um gemeinsam schwere Zeiten zu bestehen, und in denen sind wir, braucht es Vertrauen. Für Vertrauen braucht es klare Kommunikation, transparente Maßnahmen, erklärte Ziele und einen ruhigen Kurs. Ohne Vertrauen folgt die Bevölkerung nicht dem Rat der Regierenden. Und um es erneut ganz klar zu sagen: Angst schafft kein Vertrauen! Mit Angst machen erreicht man keine guten Ergebnisse. Das weiß man nicht nur als Humanmediziner, Psychologe oder Pädagoge.

Deshalb an dieser Stelle noch einmal unser Aufruf an alle Bürgerinnen und Bürger, die jetzt ganz dringend eine Booster-Impfung haben wollen: Bitte bleiben Sie besonnen. Der Schutz durch die ersten beiden Impfungen ist nicht von heute auf morgen weg. Lassen Sie die Praxen und andere impfenden Stellen ihre Arbeit machen und impfen, und zwar einen nach dem anderen und diejenigen zuerst, die am dringendsten Schutz bedürfen. 
Die Hauptbotschaft aber lautet:

Viel wichtiger als gesunde 30-Jährige zu boostern, ist, die noch ungeimpften Erwachsenen zu erreichen und zum Impfen zu bewegen. Sie sind der entscheidende Faktor, um die Intensivstationen und das Gesundheitswesen insgesamt langfristig zu entlasten. Wir haben leider eine Situation erreicht, in der die persönliche Entscheidung, auf die Impfung zu verzichten, gravierende Auswirkungen auf andere hat. Plakativ gesagt:

Wenn der Herzinfarkt oder der Verkehrsunfall nicht mehr umgehend und adäquat versorgt werden kann, weil ein ungeimpfter COVID-Patient die Ressourcen vor Ort beansprucht, dann ist das nicht mehr das alleinige Problem dieses Ungeimpften. Wer sich nicht impfen lässt und dafür keinen objektiven medizinischen Grund hat, handelt nicht gegen die Regierung, wie vielleicht unterschwellig intendiert, sondern gegen seine Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Also bitte: Lassen Sie sich impfen, damit wir alle endlich aus dieser Krise herauskommen!
An die Praxen und die dort arbeitenden Teams richte ich die große Bitte, bei allem Verständnis für Frust und Wut: Halten Sie durch! Ja, es ist zutiefst ernüchternd, dass wir in diesem Winter anscheinend vor derselben Situation stehen wie im vergangenen Jahr. Daran gibt es nichts zu beschönigen.

Aber genauso, wie die schwer Erkrankten auf die Kliniken und das dortige Personal angewiesen sind, genauso sind alle anderen auf Sie, die Ärztinnen und Ärzte und MFA in den Praxen angewiesen, damit die Krankenhäuser nicht überlastet werden und am Ende Menschen auf notwendige Behandlungen warten müssen.

Ich bin überzeugt, dass wir irgendwoher die Kraft nehmen, die Versorgung weiter aufrechtzuerhalten. Das Mindeste wäre aber, nicht ständig von der Politik oder irgendwelchen Theoretikern Knüppel zwischen die Beine geworfen zu bekommen. Wir wissen, wie medizinische Versorgung geht, wir wissen, wie Impfen geht. Lassen Sie, liebe Damen und Herrn aus der Politik, uns einfach machen. Und hören Sie auf, die Menschen zu verängstigen. Nur so kommen wir aus dieser Krise.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

natürlich gibt es auch noch Themen außer COVID-19, auch wenn diese kaum noch gehört werden. Wir werden in Kürze eine neue Regierung haben, einen neuen Bundeskanzler, einen neuen Gesundheitsminister oder eine -ministerin. Auch nach der Pandemie stehen wir vor gewaltigen Herausforderungen, Stichwort Strukturwandel ambulant/stationär, Stichwort Finanzierung, Stichwort Digitalisierung et cetera.

Auch Europa wollen und müssen wir wieder verstärkt unsere Aufmerksamkeit widmen. Das Beispiel E-Evidence-Verordnung und die damit verbundene Frage des Datenschutzes zeigt, dass Brüsseler Entscheidungen immer häufiger gravierende Folgewirkungen auch auf uns und die Versorgung in Deutschland haben können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen draußen in den Praxen und hier im virtuellen Raum: 

Ich kann mich an kein anderes Jahr erinnern, in dem wir als Ärzte- und Psychotherapeutenschaft, aber auch als Selbstverwaltung so über die Maße gefordert waren. Das macht uns noch nicht besonders, das gilt in diesen Zeiten für weite Teile der Gesellschaft.

Was in meinen Augen aber schon eine besondere Qualität hat – und das nicht im positiven Sinn – ist die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der man von Ihnen und uns erwartet, dass wir jede noch so undurchführbare Regelung gangbar machen – und die Menschen, die ärztliche und psychotherapeutische Hilfe benötigen, dabei auch noch mittragen. 

Ich lade die noch amtierenden und künftigen politisch Verantwortlichen ein, in diesem Winter 2021 einmal einen Tag in einer ganz normalen hausärztlichen Praxis zu hospitieren. Damit sie sehen, was dort los ist, damit sie sehen, dass wir nicht „rumtrödeln“ und schon gar nicht unsere Zeit mit Golfspielen verbringen, während wir eigentlich impfen sollten, wie uns bekanntermaßen auch schon unterstellt wurde.

Chefs von Public-Health-Instituten sind ebenfalls herzlich eingeladen. Und wem die Zeit dafür fehlt, der kann ja mal in unseren KBV-Podcast „Im Sprechzimmer“ reinhören. Dort schildern niedergelassene Ärztinnen und Ärzte sowie eine Psychotherapeutin ihren Alltag in der Pandemie.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich schließe mich Andreas Gassen in der Einschätzung an, dass der in der Pandemie gefundene Modus unserer Zusammenarbeit im KBV-/KV-System uns zumindest intern gut durch die Krise gebracht hat. Ich möchte mich ausdrücklich für die stets konstruktive und immer ergebnisorientierte Zusammenarbeit bedanken und hoffe, dass wir diese – wenn auch hoffentlich unter erfreulicheren Vorzeichen – im kommenden Jahr fortsetzen werden.

Den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der KBV und ihrer Tochtergesellschaften möchte ich an dieser Stelle ebenfalls ausdrücklich danken. Auch Sie mussten die Mehrfachbelastungen aus Arbeits- und Privatleben unter Pandemiebedingungen meistern und haben dabei hohe Flexibilität bewiesen.

Auch für uns gibt es Lessons learnt, zum Beispiel im Hinblick auf neue Formate der Zusammenarbeit aus der Ferne. So blieb vieles möglich und wir konnten dem Sturm standhalten. Dennoch freue ich mich schon auf die Zeit, wo wir wieder im persönlichen und dreidimensionalen Austausch stehen, der durch nichts zu ersetzen ist.

Vielen Dank

 

(Es gilt das gesprochene Wort.)
 

Download