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Reden

Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung

Sitzung am 23. Mai 2022

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

ich freue mich, Sie heute, am Vortag des 126. Deutschen Ärztetags in Bremen, zur Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) begrüßen zu können.

Schon allein die Tatsache, dass wir uns nach zwei Jahren Online-Sitzungen endlich wieder am Rande eines tatsächlich stattfindenden Ärztetages persönlich begegnen und austauschen können, ist ein gutes, um nicht zu sagen überfälliges Signal.

Es ist allerhöchste Zeit, die Corona-Starre abzuschütteln und sich auch wieder mit anderen wichtigen Themen ernsthaft auseinanderzusetzen.

Insofern passt es ganz gut, dass wir als verfasste Ärzte- und Psychotherapeutenschaft dieses Signal heute aus der Freien Hansestadt Bremen senden können, die durch Hafen und Handel sinnbildlich für den Aufbruch und fürs Anpacken steht.

Wussten Sie, dass das kleine Bremerhaven über die größte zusammenhängende Containerumschlagsanlage Europas verfügt?

Schon seit Wochen kommt es dort zu langen Staus, bedingt vor allem durch die Pandemie und die anhaltenden Lockdown-Maßnahmen in China. Lieferketten sind gestört, die Industrie wartet händeringend auf Nachschub.
Auch in der Gesundheitspolitik hat sich pandemiebedingt einiges angestaut und diesen Stau gilt es nun aufzulösen.

Nach dem gesetzgeberischen Dauerfeuer der letzten Legislatur unter Jens Spahn ist dieser Quell im Bundesministerium für Gesundheit (BMG) derzeit nahezu versiegt; man weiß nicht so genau, was dort geschieht oder auch nicht. Das ist mindestens so befremdlich wie die Hyperaktivität zuvor.

Aber jetzt scheint Bewegung ins BMG zu kommen. Für den Sommer hat Minister Lauterbach einen gesetzgeberischen „Zwischenspurt“ angekündigt.

Demnach will das BMG in kurzer Zeit verschiedene Projekte anschieben – bevor im Herbst die Corona-Fallzahlen wieder steigen könnten, so wird Herr Lauterbach zitiert. Das klingt einerseits nach Aufbruch, andererseits ein bisschen nach einer gesundheitspolitischen Beruhigungspille:

Der Minister nutzt die Sommerpause, um mal eben schnell ein paar Themen abzuarbeiten, bevor sich wieder alles um Corona dreht.

Auf der Vorhabenliste stehen unter anderem ein neues Finanzierungsgesetz für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV), der Rollout des elektronischen Rezepts (eRezept) – hierauf werden wir noch zu sprechen kommen – eine Opt-out-Regelung für die elektronische Patientenakte (ePA), Maßnahmen für die Pflege und weitere Gesundheitsberufe sowie die Cannabis-Legalisierung.

Auf die Umsetzung dieses recht straffen Plans darf man gespannt sein. Es wird sich zeigen, ob jemand wie Karl Lauterbach, der sich selbst in der Pandemie als politischer Marathonläufer begreift, auch zu einem Sprint in der Lage ist. Zumal das Parlament im Sommer bekanntermaßen nicht tagt und auch das Ministerium nur teilweise besetzt sein wird.

Letzteres zumindest dürfte allerdings tatsächlich kaum ein Hinderungsgrund für den Minister sein, Gesetze auch kurzfristig anzukündigen. Bleibt zu hoffen, dass das Ganze nicht wieder in einer Rückrufaktion endet, wie sie schon bei der Impfpflicht, beim Start des eRezepts, bei den Corona-Isolationsregeln und zuletzt bei den Vorarbeiten für ein Triage-Gesetz erfolgt ist.

Aus den Verbänden und von Ihnen hier im Plenum wird uns die Sorge vorgetragen, dass der Minister für berufspolitische Belange jenseits von Corona nicht erreichbar sei. Das können wir, zumindest gefühlt aus Sicht des KBV-Vorstands, so nicht bestätigen.

Als Kollege zeigt er durchaus die Bereitschaft zuzuhören und Verständnis für die ärztliche Sichtweise, was er insbesondere beim Thema Digitalisierung nicht zuletzt bei unserer Veranstaltung „Im PraxisCheck“ im März deutlich gemacht hat. Auf der Messe DMEA hat er Ende April noch einmal bestätigt, dass die Digitalisierung bislang vor allem technik- und wenig strategiegetrieben sei.

Es fehlt schlichtweg der Masterplan, wohin das Ganze am Ende führen und was es bringen soll. Das solle sich ändern, hat der Minister gesagt. Und er hat betont, dass sein Haus alle Beteiligten in diese strategischen Überlegungen einbinden wolle und zwar nicht nur „zum Schein“. Ziel müsse sein, nicht nur bisher analoge Prozesse zu digitalisieren, sondern eine spürbare Verbesserung der medizinischen Versorgung. Da kann ich nur sagen: Die frohe Botschaft hört man gern.

Einer scheint diese Botschaft allerdings nicht gehört zu haben, oder es ist ihm schlicht egal: gematik-Chef Leyck Dieken. Jüngster Beweis dafür: Das Ansinnen, den Rollout des eRezepts am 1. September dieses Jahres zu beginnen und zwar flächendeckend in den KV-Regionen Bayern und Schleswig-Holstein.

Wohl gemerkt ohne zuvor mit diesen Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) darüber gesprochen zu haben! Und das Ganze in einer Phase, in der viele Praxen schon das Ärgernis eines Konnektoraustauschs bewältigen müssen – eine weitere völlige Fehlplanung, die die gematik zu verantworten hat!

Wir als KBV sind es leid, durch die gematik immer nur vor die Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt zu werden – ganz zu schweigen davon, dass wir mit sieben Prozent Stimmenanteil in der Gesellschafterversammlung ohnehin nichts wirklich entscheiden können.

Und hinterher wird uns durch dieselbe gematik auch noch scheinheilig öffentlich vorgehalten, es hätte ja noch eine andere Option gegeben, wie jüngst in der Frage des Konnektortauschs. So lange der Mehrheitsgesellschafter BMG dieses Treiben fördert oder zumindest duldet, wird sich daran nichts ändern. Immer wieder versucht die gematik, Praxen und KVen vor ihren Karren zu spannen, der längst knietief im Sumpf steckt.

Bei der geplanten Einführung des eRezepts in Bayern und Schleswig-Holstein will sie den KVen sogar vorschreiben, positiv und motivierend auf die Ärzte einzuwirken, damit sie den Rollout wohlwollend umsetzen. Das erinnert mich an das Vorgehen in gewissen politischen Systemen, wo sonntags zur Parade der Jubeltross zum Fähnchenschwingen zwangsrekrutiert wird, wenn die Obrigkeit ihr angebliches Leistungsvermögen zur Schau stellt. 

Das eRezept genauso wie die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) sind – noch – Potemkinsche Dörfer: schöne Kulissen und dahinter wackelt und kracht es.

Dessen ungeachtet tut die gematik so, als müsse man die Praxen nur ein bisschen zu ihrem Glück zwingen, damit sie endlich den Segen der Telematik-Infrastruktur (TI) begreifen. Umgekehrt wird ein Schuh draus, lieber Herr Leyck Dieken:

Es wird höchste Zeit, das schöne digitale Wolkenkuckucksheim zu verlassen, das Sie der staunenden Öffentlichkeit mit jeder neuen Presseverlautbarung vorgaukeln, und endlich das Rendezvous mit der Realität zu wagen. Nämlich der Realität, die in den Praxen, aber auch den Apotheken, den Software-Häusern und bei allen anderen Beteiligten angesichts der real existierenden Digitalisierung herrscht.

Noch vor wenigen Wochen haben Sie angekündigt, die gematik sei „in einem völlig neuen Arbeitsmodus“. Ist das ein Versprechen oder eine Drohung?

Es hieß, die gematik arbeite jetzt unter enger Einbindung derjenigen, die später mit den Anwendungen arbeiten müssten. Tatsächlich? Hoffentlich wissen die Betroffenen das auch.

Lieber Herr Minister Lauterbach, wenn Sie Ihre Aussage ernst meinen, dass es bei der Digitalisierung erstens um Versorgungsverbesserungen gehen muss, zweitens, dass Funktionalität wichtiger ist als ein Stichtag und drittens, dass Betroffene zu Beteiligten gemacht werden sollen, dann bedarf es einer kompletten Neuausrichtung dieses Prozesses – und eines Machtwortes des BMG in Richtung gematik. Es darf hier nicht länger der Schwanz mit dem Hund wedeln.

Wir als KBV sind bereit und willens, einen echten Prozess einer strategischen Neuausrichtung der gematik zu unterstützen. Mein Kollege Thomas Kriedel wird gleich auf die Herausforderungen, aber auch die absoluten Notwendigkeiten eingehen, die ein solches Umdenken nach unserer Auffassung mit sich bringt.

Hierzu machen wir konkrete Vorschläge, formulieren aber auch klare Forderungen, die wir Ihnen nachher in Form einer Resolution zur Abstimmung vorlegen werden. Ignoriert die gematik weiterhin die Bedürfnisse der Vertragsärzte- und Vertragspsychotherapeutenschaft wie bisher, sehen wir allerdings kaum mehr eine Möglichkeit für eine Mitarbeit in der gematik.

Unser Anspruch – den wir als gesamtes KV-System kürzlich erneut in einem Brandbrief an Minister Lauterbach formuliert haben – ist, dass Prozesse, die heute funktionieren, nur und erst dann durch andere Verfahren abgelöst werden, wenn auch diese neuen Prozesse reibungslos funktionieren. So einfach und trotzdem für manche anscheinend schwer zu begreifen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

auch wenn die Pandemie heute nicht das Hauptthema sein soll, muss ich noch einmal darauf zurückkommen.
Die Politik erlaubt sich und den Bürgerinnen und Bürgern nun also eine Art Corona-Verschnaufpause. Der Krisenstab der Bundesregierung ist aufgelöst.

Die Zahl der Covid-19-Patienten auf den Intensivstationen ist Mitte Mai erstmals seit dem Sommer 2021 unter 900 gesunken. Die Zahl der Corona-Beatmungspatienten liegt noch bei rund 350. Wie es im Herbst weitergeht, vermag bislang keiner zu sagen.

Weder wissen wir, mit welcher Virusvariante wir es dann möglicherweise zu tun haben, noch, ob es darauf angepasste Impfstoffe geben wird. Deswegen sollte es seriöserweise auch tunlichst vermieden werden, erneut dunkle Bedrohungsszenarien an die Wand zu werfen.

Das heißt im Umkehrschluss aber nicht, dass die Politik die Hände in den Schoß legen darf. Im Gegenteil. Bundesregierung und Länder müssen jetzt Vorkehrungen treffen, damit im Herbst nicht wieder Hektik ausbricht und am Ende womöglich erneut gesellschaftliche Einschränkungen mit was auch immer begründet werden. 
Die Coronavirus-Impfverordnung soll nach aktuellem Stand bis zum 25. November 2022 verlängert werden.

Dieses Datum wirkt gegriffen, es ist rein gesetzgeberisch begründet, weil das BMG die Corona-Verordnungen maximal bis ein Jahr nach Auslaufen der epidemischen Lage von nationaler Tragweite verlängern kann. So erklärt sich dieses Datum.

Aus ärztlicher oder praxisorganisatorischer Sicht ist dieser Wechsel der Regelungen ausgerechnet im November, wenn das Infektionsgeschehen generell höher ist, hanebüchen. Wir haben deshalb eine Verlängerung der Impfregelungen bis Ende März 2023 angemahnt.

Welcher Maßnahmen es aus unserer Sicht noch bedarf, um besser präpariert in das Winterhalbjahr zu gehen, wird Ihnen Stephan Hofmeister gleich näher erläutern.

Was wir aber dringend zeitnah brauchen, ist eine Evaluation der bisherigen Coronamaßnahmen. Und zwar von einer unabhängigen Kommission und nicht von denjenigen, die die Maßnahmen selbst entwickelt oder empfohlen haben.

Aus dieser Evaluation muss sich ableiten lassen, welche Maßnahmen gegebenenfalls im Herbst sinnvoll und erfolgversprechend sein können – und welche nicht. Seltsamerweise dringt in dieser Richtung aber noch nichts nach außen, einzelne Wissenschaftler haben sich umgehend zurückgezogen, als das Thema aufkam.

Herr Professor Wieler verkündete ja bereits zu Beginn des Maßnahmenkatalogs, dass die Maßnahmen nicht hinterfragt werden dürften. Ich bin katholisch getauft, tue mich aber schon mit dem Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes schwer.

Im politischen oder wissenschaftlichen Raum ist ein solches Ansinnen von völliger Hybris geprägt. Ich bin deshalb froh, dass Karl Lauterbach jetzt zugesagt hat, dass die Evaluation rechtzeitig vorliegen wird.

Erschwert wird jede Evaluation dadurch, dass wir hierzulande kaum verlässliche und repräsentative Zahlen haben. Das hat selbst das Robert Koch-Institut eingeräumt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat jüngst vielfach kritisierte Zahlen zur Übersterblichkeit während der Pandemie vorgelegt.

Danach schneidet Deutschland leider eher schlecht ab, auch im Vergleich mit Ländern mit einer weniger rigiden Corona-Politik. Das Narrativ der Bundesregierung, wir seien wegen unserer Maßnahmen so viel besser durch die Pandemie gekommen, lässt sich so nicht durchhalten.

Minister Lauterbach hat die WHO-Zahlen – natürlich in einer Talkshow – mit dem Argument relativiert, dass dies ja keine Studie, sondern nur eine Statistik sei. Entscheidender als die Übersterblichkeit sei die Zahl der tatsächlich an oder mit SARS-CoV-2 Verstorbenen.

Das sind Nebelkerzen! Derartige Äußerungen bestätigen meines Erachtens die Befürchtung, dass er hier nach wie vor eine sehr enge Sichtweise verfolgt. Was nicht sein darf, das nicht sein kann. Todesfälle, die sozusagen im Kielwasser der Lockdown-Maßnahmen geschehen sind – Stichwort verschobene beziehungsweise nicht stattgefundene Untersuchungen und Operationen –, scheinen eine weniger große Rolle zu spielen.

Doch genau darum geht es: um eine umfassende Betrachtung ohne Tunnelblick! Bemerkenswerte Notiz am Rande: In derselben Talkshow relativierte der Minister schon vorab die Ergebnisse der Evaluierungskommission unter anderem mit dem Hinweis, dass dieser mittlerweile ja nur noch ein Virologe angehöre, nachdem Professor Drosten sich aus dem Gremium zurückgezogen hat.

Das legt den Schluss nahe, dass die Meinung von Experten anderer Disziplinen für ihn weniger Gewicht hat. Ich verweise auf meine Bemerkung zur Unfehlbarkeit weiter oben.

Wie dem auch sei. Das Einzige, was wir zum heutigen Zeitpunkt mit Gewissheit sagen können, ist, dass Impfen hilft. Und hier haben die Praxen eine beeindruckende Leistung gezeigt: Rund 90 Millionen Impfungen haben wir bis zum heutigen Tag verabreicht, das ist die Hälfte aller Covid-19-Impfungen in Deutschland. Jeder zweite Deutsche wurde in einer unserer Praxen geimpft.

Dazu gehören 36 Millionen Booster-Impfungen, die fast ausschließlich in Praxen stattfanden. Übrigens: Die Apotheken haben bislang nur rund 0,12 Prozent der in Praxen vorgenommenen Impfungen beigetragen. Stephan Hofmeister wird gleich auf diese Thematik eingehen.

Eine Bemerkung noch zum Abschluss der Corona-Thematik. Ähnlich wie bei der Digitalisierung kann man nur mit Verwunderung zu Kenntnis nehmen, wie viele Abermillionen Euro Bund und Länder in Maßnahmen stecken, deren Nutzen mit Fug und Recht bezweifelt werden kann.

Man hat jedoch kein Geld übrig für all die Medizinischen Fachangestellten in unseren Praxen, die sich in der Pandemie krumm gemacht haben bis zur Erschöpfung. In einer Anhörung vor dem Gesundheitsausschuss des Bundestages am 27. April zum Pflegebonus-Gesetz haben wir als KBV zum wiederholten Mal eine steuerfinanzierte Prämienzahlung, analog zu den Pflegekräften, gefordert.

Hierfür fand sich jedoch keine Mehrheit. Bei einer Anhörung im Finanzausschuss des Bundestages am 9. Mai zum vierten Corona-Steuerhilfegesetz haben wir die Minimalforderung, nämlich die Steuerbefreiung von Boni, die Arbeitgeber aus eigener Tasche zahlen, erhoben.

Dies wurde zwischenzeitlich vom Bundestag beschlossen, der steuerfreie Betrag wurde von 3.000 auf 4.500 Euro angehoben und die Arztpraxen wurden in den Kreis der Begünstigten aufgenommen. Das ist aus unserer Sicht der mindeste Beitrag einer staatlichen Anerkennung der Leistungen des Praxispersonals.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

ich bleibe beim Geld, zumindest indirekt. Zu den nächsten Vorhaben des BMG, die ich eingangs ansprach, gehört auch ein Gesetz zur Stabilisierung der GKV-Finanzen – das, nebenbei bemerkt, bereits für den März schon einmal angekündigt war.

Das prognostizierte Minus der Krankenkassen ist sattsam bekannt und wird vom GKV-Spitzenverband bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Feld geführt. Der Bundesgesundheitsminister hat zu Beginn seiner Amtszeit versprochen, mit ihm werde es keine Leistungskürzungen geben. 

Gerade die Praxen haben in der Corona-Pandemie Großartiges geleistet. Auch die Ukraine-Flüchtlinge werden geräuschlos versorgt. Im kommenden Winter werden diese Praxen als Schutzwall für eine eventuelle Corona- oder Influenzawelle gebraucht.

Die als Folge des völkerrechtswidrigen Krieges gegen die Ukraine jetzt stark ansteigenden Kosten und der hohe Inflationsdruck bedrohen diese Praxen jetzt aber akut.

Wir werden deshalb in den diesjährigen Verhandlungen zum Orientierungswert mit den bisherigen Mechanismen nicht klarkommen. Es muss eine Sonderlösung für dieses Jahr gefunden werden.

Ich bin froh, dass mir Karl Lauterbach in einem Gespräch letzte Woche zugesagt hat, dass er für finanzielle Sicherheit der Praxen sorgen will. Das ist ein gutes und wichtiges Signal.

Eine exorbitante Beitragserhöhung ist politisch aber ebenfalls nicht erwünscht. Was also tun? Ein naheliegender und längst überfälliger Schritt wäre, die vorhandenen Ressourcen effizienter einzusetzen und zwar durch eine konsequente Ambulantisierung dafür geeigneter Leistungen.

Leider ist dieses Thema, ebenso wie die sektorenübergreifende Versorgung, derzeit nicht auf der Prioritätenliste des BMG beziehungsweise der Bundesregierung. Umso wichtiger ist, dass wir im Rahmen unserer Möglichkeiten hier selbst „Pflöcke einrammen“.

Diese Gelegenheit bietet sich derzeit nirgends so gut wie bei unserem Gesetzesauftrag zur Reform des ambulanten Operierens (AOP). Hier bietet sich die Chance, die berühmten „gleich langen Spieße“ von ambulantem und stationärem Sektor endlich einmal Wirklichkeit werden zu lassen.

Mein Petitum war und ist: Wer gemäß Kriterienkatalog über die personellen, räumlichen und technischen Voraussetzungen verfügt, der darf mitmachen, egal, ob Krankenhausarzt oder -ärztin oder niedergelassen.

Was nicht sein kann, ist, den Leistungskatalog unter dem Aspekt des Bestandsschutzes für Krankenhäuser zu definieren. Wenn wir die Teilnahmekriterien festlegen, kommt es zum Schwur. Schon heute verfügen viele ambulante OP-Zentren und Praxiskliniken über eine mindestens gleichwertige Infrastruktur wie manches Kleinstkrankenhaus.

Es reicht eben nicht, dass Kliniken sich über die bloße Anzahl ihrer Betten definieren, für die Versorgung aber oft das Personal fehlt. Entscheidend muss sein, was sie wirklich zu leisten imstande sind. Dazu gehört im Übrigen auch, das Operieren nicht einem Weiterbildungsassistenten zu überlassen, sondern – wie es in den Praxen Standard ist – den Facharztstatus zwingend vorzusehen.

Wenn alle diese Voraussetzungen gegeben sind, dann ist auch klar, dass es keine zwei Preise für die gleiche Prozedur geben kann. Es kann nicht sein, dass Eingriffe in der ambulanten Versorgung zum Teil nur einen Bruchteil der Vergütung erlösen, die Krankenhäuser über das DRG-System erzielen.

Darum geht es in unseren Beratungen mit dem GKV-Spitzenverband und der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) auch um eine neue Honorierung für Eingriffe, die bereits heute ambulant stattfinden.

Diese Leistungen sind seit Jahren deutlich unterfinanziert, speziell die Hygienekosten sind bekanntermaßen davongaloppiert. Hier muss unbedingt nachgebessert werden, damit das ambulante Operieren grundsätzlich eine Chance hat.

Das Nachbessern bei den Hygienekosten ist im Übrigen nicht nur beim Operieren überfällig, sondern generell. Die Finanzierung des ambulanten Operierens muss aber auch ein Nachbessern bei den Gehältern abdecken – sonst droht bald eine gefährliche Verarmung der Anbieterlandschaft. Für all das müssen die Krankenkassen zunächst Geld in die Hand nehmen.

Am Ende, wenn es vernünftig gemacht ist, wird sich das Ganze auszahlen – für die Patienten, für die Leistungsanbieter, aber auch für die Solidargemeinschaft. Insofern erwarte ich, dass auch die Politik ein Interesse hat, bei diesem Thema schnell voranzukommen. 

Unser Zeitplan sieht vor, dass wir die innerärztlichen Beratungen über die Neubewertung ambulanter Operationen, die weit vorangetrieben sind, bald abgeschlossen haben werden.

Die Prüfung des am 1. April veröffentlichten IGES-Gutachtens, insbesondere des vorgeschlagenen Leistungsspektrums mit Ambulantisierungspotenzial, läuft derzeit in enger Abstimmung mit den Berufsverbänden.

Zum 1. Juli wollen wir mit dem GKV-Spitzenverband und der DKG eine erste Erweiterung des AOP-Katalogs vereinbaren. Gleichzeitig soll bis dahin ein Eckpunktepapier für die Anpassung der Vergütung der AOP-Leistungen festgelegt werden.

Die konkrete Umsetzung, unter anderem inklusive der im Gesetz vorgesehenen Schweregrade, soll bis Ende des Jahres erfolgen, um Leistungen des angepassten AOP-Katalogs ab dem 1. Januar 2023 abrechnen zu können. Sowohl der Leistungskatalog als auch die Vergütungshöhe sollen dann in Zukunft jährlich überprüft werden. 

Bei den zweiseitigen Beratungen mit dem GKV-Spitzenverband gibt es Signale, dass dieser bereit sein könnte, die von ihm geforderte Punktsummen- und Ausgabenneutralität insbesondere im Hinblick auf Hygieneaufwände und bestimmte Operationsverfahren aufzuheben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich komme zu meinem letzten Thema. Stephan Hofmeister hat auf der Vertreterversammlung im März bereits über ein Urteil des Bundesozialgerichts (BSG) berichtet, dass scheinbar als Nischenthema daherkommt, aber weitreichende Folgen für die Versorgungslandschaft in Deutschland haben könnte.

Es geht um den Gesellschafterstatus von Ärzten in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ), die dort gleichzeitig angestellt sind.

Das BSG sieht beides als unvereinbar an, sofern angestellte Vertragsärzte die vom Bundessozialgericht für den Anstellungsstatus als maßgeblich befundene Weisungsabhängigkeit durch einen gleichzeitigen Gesellschafterstatus mit entsprechender Rechtsmacht über die Gesellschaft aushebeln könnten.

Das Problem ist, dass es dieses Thema vor der Gerichtsentscheidung überhaupt nicht gab und fast ein Viertel aller MVZ in Deutschland nach diesem Modell funktionieren. Würde diesem nun ein Riegel vorgeschoben, wäre dies eine weitere Benachteiligung vertragsärztlich getragener MVZ gegenüber anderen und würde ihren Rückgang im Verhältnis zu von Krankenhäusern betriebenen Einrichtungen weiter befeuern.

Die Entscheidung wäre darüber hinaus ein Booster für investorengetriebene MVZ und damit für eine weitere Kommerzialisierung der Versorgung. 

Wir stehen zu diesem Thema bereits in engem Austausch mit dem BMG und dem Gesundheitsausschuss des Bundestages. Wir brauchen eine gesetzliche Klarstellung, dass die Möglichkeit einer Anstellung im eigenen MVZ losgelöst zu betrachten ist von einer Abhängigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn.

Das BMG prüft unsere Anfrage, wird allerdings die schriftliche Urteilsbegründung des BSG abwarten wollen, die noch aussteht. Wir sind optimistisch, dass wir mit unseren guten Argumenten im Ministerium durchdringen werden.

Wir werden uns dem Thema MVZ-Strukturen und hier insbesondere dem Vordringen privater Geldgeber in einer eigenen Klausursitzung der Vertreterversammlung widmen. Hier ist angesichts der Entwicklungen zweifellos besondere Aufmerksamkeit und eine klare Positionierung geboten.

Deshalb werden wir Ihnen heute auch einen entsprechenden Antrag zur Abstimmung vorlegen. In manchen Fachgebieten, wie der Augenheilkunde und der Radiologie, sind bereits zu viele Praxen von Private Equity aufgekauft und zu Ketten beziehungsweise Zentren akkumuliert worden.

Dort werden im Zweifelsfall nur noch die Leistungen angeboten, die eine entsprechende Rendite versprechen. Es droht eine versorgungstechnische Monokultur. Und wenn dann die „unlukrativen“, aber ja gleichwohl notwendigen Leistungen nur noch von inhabergeführten Praxen übernommen werden, dann sind auch diese Kolleginnen und Kollegen auf Dauer nicht überlebensfähig.

Das dürfen wir nicht zulassen. Unser politisches Ziel muss daher sein, Versorgungsabbrüche oder -lücken zu vermeiden, die dadurch entstehen, dass Praxen aufgekauft und gewisse Leistungen den Patienten dann gar nicht mehr angeboten werden, einfach weil sie sich „nicht rechnen“ und keinen Gewinn versprechen. Hierzu werden wir auf unserer Klausursitzung im Herbst intensiv beraten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

Sie sehen: Nicht nur das Coronavirus und der Krieg in der Ukraine fordern uns heraus. Wir müssen der Politik klarmachen, dass es in Deutschland nicht nur Krise geben darf.

Es gilt vor allem, Krisen zu vermeiden. Dies trifft besonders auf unser Gesundheitssystem zu. Hier müssen wir gemeinsam anpacken. Der Bundestag, die Länder, das BMG und wir als Selbstverwaltung.

Corona hat uns gezeigt: Das deutsche Gesundheitssystem ist eines der besten Systeme der Welt. Dies gilt es nicht nur zu erhalten, sondern fit für die Zukunft zu machen.

Dafür müssen wir es auch alle schaffen, über unseren eigenen Schatten zu springen und neue innovative Wege zu gehen. Die niedergelassene Ärzteschaft steht für diesen Zukunftskurs.

Dass wir diesen Zukunftskurs gehen können, liegt an Ihnen. Das KV-System hat bewiesen und beweist es tagtäglich: Wir können nicht nur Krise, wir können vor allem Normalität und wir können natürlich auch Zukunft. 

In den nächsten Monaten stehen im KV-System viele personelle Veränderungen an. Daher möchte ich einfach jetzt schließen und Ihnen allen schon heute Danke sagen. Sie können stolz darauf sein, was Sie in Ihren KVen in den letzten Jahren alles erreicht haben!

 

Es gilt das gesprochene Wort.

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