Bericht von Dr. Andreas Gassen an die Vertreterversammlung
Rede des KBV-Vorstandsvorsitzenden am 12. Juni 2020
Sehr geehrte Frau Vorsitzende,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
ich begrüße Sie zur ersten Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung im Jahr 2020. Tatsächlich ist es die erste VV in diesem Jahr und das im Juni. Das ist sicher ein Novum in der Geschichte der KBV und der Kassenärztlichen Vereinigungen. Wir alle haben in den zurückliegenden Wochen vieles erlebt, was es so zuvor noch nicht gegeben hat.
Das Coronavirus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Es hat unsere unmittelbare Lebenswirklichkeit in nie dagewesener Weise beeinflusst – und tut es immer noch, wie wir auch an der heutigen Sitzung sehen. Was im fernen Wuhan mit unklaren Berichten im Januar – und in der Realität wohl bereits deutlich früher – über eine neuartige Lungenkrankheit begann, hat sich zu einem globalen Pandemie-Fiasko ausgebreitet.
Vieles werden wir nicht mehr vergessen können: das sich immer schneller entwickelnde Kaleidoskop von endzeitartigen Bildern aus italienischen Krankenhäusern, die absurden Pandemie-Dementis des amerikanischen, selbst ernannten „Führers der freien Welt“ oder einen kaum für möglich gehaltenen Lockdown des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland.
Wir mussten über Nacht erhebliche Einschnitte in unsere Bürgerrechte hinnehmen. Nicht einmal die Kirchenräume waren mehr „heilig“, sogar Gottesdienste wurden verboten. Angst ging um. Das begann völlig unvorbereitet vor rund drei Monaten. Mittlerweile tastet man sich weltweit mit unterschiedlichem Erfolg und unterschiedlichen Schwerpunkten wieder zu einer neuen Normalität zurück.
Während die Politik mit dem weitgehenden Shutdown das ganze Land in eine Art künstliches Koma versetzt hat, war das KV-System ganz und gar nicht im Shutdown und die ambulante Versorgung arbeitete sehr erfolgreich auf Hochtouren. Und das, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat in Deutschland den Unterschied gemacht.
Dieser in der ganzen Welt bewunderte Unterschied im Umgang mit der Krise in Deutschland ist eng mit der ambulanten Versorgung verknüpft. 83 Millionen Deutsche konnten sich auf ein hervorragend funktionierendes System verlassen. Darauf können wir gemeinsam stolz sein.
Besonders möchte ich Ihnen allen dafür herzlich danken.
Danken für die offene, vertrauensvolle und sehr konstruktive Zusammenarbeit zwischen der KBV und allen KVen. Danken für die Bereitschaft, kurzfristig in elf Telefonkonferenzen die Krisensituation analysiert, die Maßnahmen diskutiert und dann gemeinsam gehandelt zu haben. Und ich möchte Ihnen auch danken für Ihr Verständnis auch für schwierige Entscheidungen, die zu treffen waren und die sie mitgetragen haben.
Diese wirklich nicht selbstverständliche Form der Zusammenarbeit und des gemeinsamen Vertrauens hat mich wieder zutiefst darin bestärkt, dass nur die gemeinsame Selbstverwaltung die einzige und richtige Antwort für ein erfolgreich funktionierendes Gesundheitssystem sein kann. Daher würde ich mich auch sehr freuen, wenn wir das in der Pandemie-Krise neu gewachsene Vertrauen auch in unserer zukünftigen Zusammenarbeit festigen könnten.
Dank gilt auch den Mitarbeitenden der KBV und besonders der Leiterin unserer Task-Force, Frau Dr. Steiner.
Ein bisschen haben mich die letzten Wochen auch an die Situation im OP erinnert: Während der Patient sediert ist, agieren Ärzte und Personal um ihn herum mit maximaler Konzentration und Aufmerksamkeit, die Vitalzeichen immer im Blick, jeder Handgriff muss sitzen. Und nun, da der Patient wieder erwacht ist, können wir sagen: Es geht ihm relativ gut.
Ganz offensichtlich hat Deutschland beim Infektionsgeschehen und dessen Folgen deutlich besser abgeschnitten als viele andere Länder. Und das, obwohl die getroffenen Maßnahmen wie Kontaktbeschränkungen und der Shutdown des öffentlichen Lebens sich nicht wesentlich von denen der meisten Staaten unterschieden.
Warum war die Entwicklung trotzdem eine andere?
Sicher treffen hier verschiedene Faktoren zusammen. Wie bei so vielen Phänomenen im Zusammenhang mit Corona werden wir erst in einigen Monaten, vielleicht sogar Jahren schlüssige Erklärungen haben. Es gibt aber Faktoren, bei denen sich schon heute die Mehrheit der Experten einig sind, dass sie das Geschehen günstig beeinflusst haben.
Zum einen gab es eine frühe Information über die ersten Fälle und die Möglichkeit, diese räumlich und sozial einzugrenzen sowie Quarantänemaßnahmen einzuleiten. Ein weiterer wesentlicher Faktor sind die umfangreichen Testungen, mit denen wir so früh wie nirgends sonst in der Welt begonnen haben. Dies wiederum wurde ermöglicht durch die Tatsache, dass wir als KBV sehr schnell – nach Abstimmung mit der Wissenschaft und Laboren – mit den gesetzlichen Krankenkassen die Kostenübernahme für die Versicherten geregelt haben.
Die enge Kooperation von KVen, Vertragsärzten und Laboren hat dafür gesorgt, dass sehr schnell in großem Maßstab getestet werden konnte. Die KBV konnte dazu bereits im Februar Vereinbarungen mit dem GKV-Spitzenverband zur Kostenübernahme treffen. Doch nicht nur die Finanzierung, auch die Infrastruktur wäre ohne das KV-System mit den niedergelassenen Ärzten nicht so schnell am Start gewesen.
In kürzester Zeit haben die KVen und die niedergelassenen Ärzte, teilweise gemeinsam mit dem Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) ein flächendeckendes Netz von Test- und Versorgungseinrichtungen aufgebaut. Dazu gehören sogenannte Fieberambulanzen, Testzentren, Infektionssprechstunden, mobile Teams und vieles mehr. Und nicht nur das: Viele Vertragsärzte haben zusätzlich die Kollegen vom ÖGD bei deren Arbeit unterstützt. Manche sind dafür sogar aus dem Ruhestand zurückgekehrt.
Der ÖGD wäre alleine personell niemals in der Lage gewesen, den enormen Bedarf an Testungen, Kontaktverfolgungen und dergleichen abzuarbeiten.
Unser vertragsärztliches System ist damit ein entscheidender Faktor in der bisherigen Krise. Etwas prosaisch formuliert: ein Fels in der Brandung.
Eines hat die Pandemie-Krise der Politik und weiten Teilen der Öffentlichkeit klargemacht: Der zentrale Teil der Gesundheitsversorgung in Deutschland findet eben ambulant und damit schon vor den Krankenhäusern statt. Das galt auch während der Corona-Pandemie. Selbst während der Hochphase der Corona-Krise im April wurden bei uns 85 Prozent der betroffenen Patienten in den Praxen versorgt, nur elf Prozent waren im Krankenhaus.
Der Rest hatte keine bedeutsamen Symptome. Anders ausgedrückt, liebe Kolleginnen und Kollegen – Sie kennen die Zahlen, aber ich möchte sie an dieser Stelle noch einmal betonen: Sechs von sieben Patienten wurden hierzulande von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten versorgt.
Dies sind Zahlen, auf die wir alle hier stolz sein können. Es sind nämlich unsere Zahlen. Zahlen, die den oben beschriebenen Unterschied zu vielen anderen Ländern in Europa ausmachen. Zahlen, die die Politik mit großem Respekt zur Kenntnis genommen hat – auch unser Gesundheitsminister!
Zum Vergleich: In Großbritannien mit seinem staatlichen Gesundheitssystem mussten zwei von drei Patienten in den ohnehin chronisch überlasteten Krankenhäusern behandelt werden! Auch in Frankreich und Spanien wurden die meisten Fälle stationär versorgt – bei deutlich weniger Intensiv- und Beatmungskapazitäten als hierzulande. Während in anderen Ländern die Patienten also eher in großen, zentralen Einheiten versorgt wurden, konnten sie sich in Deutschland auf das kleinteilige Netz der Praxen vor Ort verlassen.
Sie mussten nicht ins Krankenhaus oder große Ambulanzen, um sich dort testen und bei Symptomen behandeln zu lassen, sondern konnten zum allergrößten Teil zu Hause bleiben – den Empfehlungen entsprechend. Diese engmaschige, niedrigschwellige, auf persönlichen Kontakten und Vertrauen basierende Versorgung durch Praxisärzte gibt es in anderen Ländern nicht oder zumindest nicht so ausgeprägt wie bei uns. Die Menschen hierzulande wussten, wo sie sich hinwenden konnten, und haben es entsprechend frühzeitig getan.
Wir, die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte, haben den Kliniken den Rücken freigehalten, gerade für die Versorgung schwerer Fälle. Wir haben den Schutzwall gebildet, der unser Gesundheitswesen vor der Überlastung bewahrt hat. Wie konnte das funktionieren ohne ursächliche Therapie, Impfung et cetera? Meines Erachtens hat es den Unterschied gemacht, dass es die bewährten und den Patienten vertrauten ambulanten Strukturen in Form der Haus- und Facharztpraxen gab.
Patienten mit Symptomen wurden frühzeitig diagnostiziert und wo nötig behandelt, verschlechterte sich ihr Zustand, wurden sie geordnet ins Krankenhaus verlegt. Situationen, wie sie Kollegen beispielsweise aus Italien oder auch New York City schildern, wo Patienten in derart schlechtem Zustand ins Krankenhaus kamen, dass bereits auf dem Transport intubiert werden musste, konnten so in der Regel vermieden werden. Damit blieb den stationär tätigen Kollegen bei uns Zeit für ein abgestuftes Vorgehen.
Wie schützens- und erhaltenswert dieses System ist, sollte spätestens jetzt jedem klargeworden sein!
Dennoch standen bedauerlicherweise zu oft die Krankenhäuser im Fokus der Aufmerksamkeit. Das wichtigste sei, so der allgemeine Tenor, Intensiv- und Beatmungskapazitäten aufzustocken; es wurden Notfallpläne für die Kliniken erstellt, hier in Berlin hat der Senat sogar ein Corona-Behelfskrankenhaus in einer alten Messehalle errichten lassen – wenn auch bislang ohne Beatmungsgeräte und Fachpersonal. Wieder einmal ist eine dieser berühmten Berliner Planungsruinen entstanden.
Angesichts der Nachrichten aus anderen Ländern verwundern diese Handlungsweisen nicht. Die schrecklichen Bilder insbesondere aus Nord-Italien waren eine Warnung und haben schlimmste Befürchtungen geschürt. Es herrschte Angst. Das ist menschlich verständlich; wir Ärzte treffen aber medizinische Entscheidungen nicht aus Angst heraus, sondern indem wir Risiken abwägen, wissenschaftliche Daten prüfen, nach unserer Erfahrung und der individuellen Patientensituation.
Im Spannungsfeld zwischen durchgeknallten Verschwörungstheoretikern mit ihren abstrusen Ideen und dem Streben mancher Politiker, die Rückkehr zu verfassungskonformen, bürgerlichen Freiheiten von einer Art Gehorsam abhängig zu machen, gilt es, die Balance zu halten. Hier müssen Ärzte und Psychotherapeuten die Stimme der medizinischen Vernunft sein.
Wir wollen unseren Patienten keine Angst machen. Angst ist kein guter Ratgeber. Mit dem Schüren von Ängsten politischen Entscheidungen zu höherer Akzeptanz zu verhelfen, ist einer freiheitlichen westlichen Demokratie unwürdig. Das berühmt-berüchtigte Papier zur sogenannten „Hammer & Dance“-Strategie aus dem Bundesinnenministerium lässt einen verwundert den Kopf schütteln: Welcher Geist spricht aus dem Wunsch, „die gewünschte Schockwirkung zu erzielen“?
Welches humanistische Verständnis hat jemand, der Menschen mit folgenden Szenarien quasi zum Gehorsam zwingen will: „Viele Schwerkranke werden von ihren Angehörigen ins Krankenhaus gebracht, aber abgewiesen, und sterben qualvoll um Luft ringend zu Hause. Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst. Die Situation, in der man nichts tun kann, um in Lebensgefahr schwebenden Angehörigen zu helfen, ebenfalls.“
Oder, in Richtung unserer Kinder gemünzt: „Wenn sie dann ihre Eltern anstecken, und einer davon qualvoll zu Hause stirbt und sie das Gefühl haben, schuld daran zu sein, weil sie zum Beispiel vergessen haben, sich nach dem Spielen die Hände zu waschen, ist es das Schrecklichste, was ein Kind je erleben kann.“
Ein derartiges Papier sollte aus keinem Ministerium kommen. Um es ganz deutlich zu sagen: Bei uns gab es diese Szenarien nicht und es wird sie wohl auch nicht geben. Das ist aber nicht das Verdienst unseres bayrischen Innen- und Heimatministers.
Es sind die flexiblen, stabilen, dezentralen und weitgehend autonomen vertragsärztlichen Strukturen, die dafür sorgen, dass eine Überlastung des Gesundheitssystems, vor allem des stationären Sektors, in Deutschland ausbleibt! Das ist im Übrigen auch ein Verdienst der in der Vergangenheit oft gescholtenen und viel diskutierten sogenannten „doppelten Facharztschiene“.
Ich wiederhole es gerne noch einmal: Die Niedergelassenen waren und sind der Schutzwall in der Corona-Pandemie, und das nicht nur für die Krankenhäuser. Sie waren sozusagen der erste Wellenbrecher.
Minister Spahn ist dafür unser Kronzeuge. Ich zitiere wörtlich aus dem Brief, den er Ende März an alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte schrieb: „Sie (…) bilden den ersten Schutzwall, den unser Gesundheitssystem im Kampf gegen das Virus aufbietet.“
Und weiter: „Ihr Engagement und Ihre Bereitschaft, den Arztberuf mit Leidenschaft auszuüben, machen es möglich, die Pandemie in geordneten Bahnen zu begleiten und den stationären Sektor vor einer über das Maß des Notwendigen hinausgehenden Inanspruchnahme mit Patienten zu schützen.“ Und weil der Minister die Rolle unserer niedergelassenen Ärzte richtig einschätzt, hat er den Praxen auch den von uns im März geforderten Schutzschirm zuerkannt, der in dieser Form bislang einmalig ist.
Er soll den Bestand unserer ärztlichen Infrastruktur und damit des Schutzwalls gewährleisten. Die Idee, dass der Schutzschirm das Recht auf Kurzarbeitergeld für Praxismitarbeitende per se ausschließen sollte, haben wir unverzüglich abgelehnt, dies ist dann auch schnell korrigiert worden. Das zuständige Ministerium hat prompt auf die Intervention der KBV reagiert und eine Klarstellung seitens der Bundesagentur für Arbeit veranlasst. Denn dass die Praxen einerseits an der Corona-Front kämpfen, andererseits aber Einnahmen wegbrechen, weil Patienten ausbleiben, ist eine Tatsache.
Was die Ärztinnen und Ärzte, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie die KVen in der Krise geleistet haben, lässt sich eindrucksvoll auch in Zahlen ausdrücken. Hier nur ein Ausschnitt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
- Sie haben ca. 450 stationäre und mobile Testeinrichtungen sowie
- ca. 500 stationäre und mobile Behandlungseinrichtungen aufgebaut.
- Bis Ende Mai haben die KVen vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) etwa 20 Millionen FFP2-Masken zur Verteilung an die Praxen erhalten. Zusätzlich haben die KVen selbst noch einmal etwa 10 Millionen FFP2-Masken beschafft.
- Die KBV selbst hat 2 Millionen FFP2-Masken beschafft und an die KVen verteilt.
- Mehrere Tausend Ärztinnen, Ärzte und Medizinische Fachangestellten haben freiwillig in Abstrichzentren, bei der 116117 und beim ÖGD ausgeholfen.
- Gemeinsam haben wir die Kapazitäten der 116117 massiv ausgebaut auf:
- mehr als 30 Servicecenter und 116117-Annahmestellen, zwei 116117-Servicecenter auf Bundesebene,
- bis zu 3.500 parallel geschaltete Leitungen sowie
- 1.750 Servicecenter-Mitarbeitende bundesweit mit medizinischer Ausbildung.
- Beim Angebot von Videosprechstunden sind alleine im 1. Quartal 2020 mehr als 22.000 hinzugekommen.
- Die vertragsärztlichen Labore haben ihre Kapazitäten für Virusnachweise binnen weniger Wochen vervielfacht: Von rund 16.000 möglichen Tests pro Tag in etwa 45 Laboren Anfang März auf eine Kapazität von rund 140.000 Tests am Tag in rund 130 Laboren Ende Mai.
- Stichwort Monitoring: Die KVen haben auf vielfältige Weise die Betreuung von ambulanten COVID-19-Patienten in den Regionen organisiert. Etwa durch:
- regelmäßige telefonische Kontaktaufnahme zu Hause,
- Hausbesuche, bei Bedarf 24/7,
- spezielle „COVID-19-Care-Ärzte“,
- Video-und Telefonsprechstunden,
- digitale Vernetzung mit den Gesundheitsämtern.
Um zu verdeutlichen, was die ambulante Versorgung leistet, haben wir kurzfristig die Kampagne „#IhreAbwehrkräfte“ ins Leben gerufen. Sie lief von Mitte April bis Ende Mai. Neben Zahlen und Fakten zur ambulanten Versorgung in der Corona-Krise war es uns vor allem wichtig, die Menschen selbst sprechen zu lassen, die sich in der Krise so sehr für andere engagieren: niedergelassene Ärztinnen und Ärzte, medizinisches Fachpersonal und freiwillige Helfer, wie etwa Medizinstudierende. Dazu haben wir Printanzeigen, TV-Spots und Online-Banner geschaltet und waren auf Twitter aktiv.
Unsere gemeinsame Kampagne „#IhreAbwehrkräfte“ sollte vor allem der Politik noch einmal eindrücklich klarmachen, was die Praxen jeden Tag für die Versorgung leisten. Ohne dieses Engagement wären womöglich ähnliche Bilder wie die aus den italienischen Krankenhäusern auch aus unseren Kliniken in den Abendnachrichten gekommen.
„#IhreAbwehrkräfte“ war möglich, weil Sie als KV-Vorstände einverstanden waren, dass wir bereits eingeplante Mittel für die Kampagne zur Bewerbung des Patientenservice 116117 kurzfristig umwidmen. Ich denke, das war eine gute und richtige Entscheidung.
Wir konnten auch deswegen die Gelder für die 116117 umwidmen, weil unsere Nummer durch die Pandemie quasi über Nacht zur „Corona-Hotline“ wurde. Unsere 116117 war und ist die einzige bundesweite Nummer, die rund um die Uhr für Fragen zum Corona-Virus erreichbar ist. Das Anrufaufkommen hat sich im März binnen kurzer Zeit vervielfacht. Dass ein solcher Ansturm mit den für normale Zeiten und vor allem ja auch ganz andere Aufgaben ausgelegten Kapazitäten nicht reibungsfrei zu bewältigen war, liegt auf der Hand.
Längere Wartezeiten der Anrufer ließen sich gerade zu Beginn der Pandemie nicht vermeiden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen und die KBV haben jedoch umgehend reagiert, indem wir sowohl die technischen als auch die personellen Kapazitäten deutlich erhöht und das Angebot durch neue, KI-gestützte Funktionalitäten ergänzt haben. Das große Interesse an der 116117 – sogar das Bundeskanzleramt hat die Nummer beworben – zeigt einmal mehr, dass Versorgung ohne das KV-System nicht funktioniert. Es gibt schlichtweg niemanden, der diese Aufgabe stemmen könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
weil es dieses gut funktionierende Gesundheitssystem gibt, können wir jetzt mit Umsicht und mit Vorsicht, aber auch mit Zuversicht und ohne Angst den Weg zurück in die schmerzlich vermisste Normalität antreten. Und das ist dringend notwendig, wenn wir nicht einer ganzen Generation ihre Chancen auf Bildung, Zukunft und Teilhabe verbauen wollen.
Niemand weiß, wann und ob es überhaupt einen Impfstoff geben wird. Es ist also relativ sinnfrei dies als zwingende Voraussetzung für irgendetwas zu formulieren.
Auch ist, wie der aktuelle Gelehrtenstreit zeigt, wohl überhaupt nicht klar, ob Kinder nun eine andere Viruslast als Erwachsene tragen und ob sie gar nicht oder sogar besonders infektiös sind. Es hilft nicht wirklich, wenn Familienministerin Giffey gerade in der „Bild am Sonntag“ bis Ende der Sommerferien gesicherte Erkenntnis zum Infektionsrisiko bei Kindern fordert. So funktioniert Wissenschaft nicht, es gibt hier kein Bestelldatum. So etwas müsste die Politik am besten wissen, da ja die Umsetzung von politischen Entscheidungen, falls sie überhaupt kommt, auch selten pünktlich ist. Berliner wissen, was ich meine.
Trotzdem sind wir ja nicht hilflos. Aus ärztlicher Sicht ist es vor allem wesentlich, und das hat uns bisher vergleichsweise gut durch die Pandemie kommen lassen, die Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Dazu hat das Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung ein innovatives Konzept von Frühindikatoren entwickelt, die quasi als Frühwarnsystem funktionieren.
Wir wissen dadurch, wie wir mit Infektionsanstiegen umzugehen haben, wann man wo anfangen muss, eventuell Umstellungen in der Versorgung und damit letztlich Maßnahmen für die Bevölkerung vorzunehmen. Die Berechnungen gehen aktuell von einer Vorwarnzeit von 100 Tagen aus. Diese Vorwarnzeit hat bei den sich immer positiver entwickelnden Zahlen noch nicht einmal begonnen.
Die Chancen sind also bestens, dass Deutschland ohne zweite Welle durch den Sommer kommt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Schutzbekleidung: Eigentlich ein Thema, welches in einem Land wie Deutschland keine Rolle spielen sollte. Dem war leider nicht so. Mein Kollege Stephan Hofmeister wird gleich auf das Thema genauer eingehen. Gerade aber wegen des hohen Infektionsrisikos unserer Ärzte- und Pflegerschaft mussten auch wir als KBV und Sie als KVen einspringen, um die teilweise dramatische Lage etwas zu entspannen.
Nachdem der Bund eine zentrale Beschaffung medizinischer Schutzausrüstung angekündigt hatte, haben wir umgehend unsere Hilfe bei der Verteilung an die Praxen angeboten. Diese wurde vom BMG dankbar angenommen, denn es stellte sich schnell heraus, dass die KVen die einzigen waren, die aufgrund ihrer organisatorischen Struktur diesen Job übernehmen konnten. Parallel dazu haben Sie und wir, wie auch vom Ministerium empfohlen, weiterhin Schutzausrüstung in Eigenregie bestellt und verteilt.
Insgesamt hat sich das KV-System durch vorausschauendes Handeln während der Pandemie bewährt. Die ärztlichen Körperschaften, denen gerne mangelnde Flexibilität und Agilität vorgeworfen wird, dafür Schwerfälligkeit und Bürokratismus, haben in der Krise das Gegenteil bewiesen. Das gilt im Übrigen auch für den GKV-Spitzenverband und den Gemeinsamen Bundesausschuss.
Die Selbstverwaltung hat die ganze Zeit über funktioniert. Und sie hat bewiesen, dass sie schnell, flexibel und konstruktiv Dinge möglich machen kann.
Diese Tatsache vor Augen mutet es umso widersinniger an, dass in manchen Bundesländern die Entmachtung der ärztlichen Selbstverwaltung und sogar die Zwangsrekrutierung von medizinischem Personal ernsthaft erwogen, in einem Bundesland sogar exekutiert wurde. Hier zeigt sich ein Misstrauen der Politik ausgerechnet gegenüber Menschen, die schon durch ihre Berufswahl dokumentieren, dass sie anderen helfen wollen. Zwang war, ist und bleibt der völlig falsche Weg, um eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zu organisieren!
Ganz abgesehen davon, dass es sich hierbei auch um einen erheblichen verfassungsrechtlichen Eingriff in individuelle Grundrechte handelt. Was dann auch zumindest in Nordrhein-Westfalen dazu geführt hat, dass entsprechende Maßnahmen am Parlament gescheitert sind. Für mich geht es hierbei um Respekt vor einem Berufsstand, aber auch um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der in jüngerer Zeit ja oft Anlass für Debatten bietet.
Ein gesundes Maß an Skepsis scheint mir grundsätzlich angebracht, wenn Maßnahmen als alternativlos propagiert werden. Richtig ist: In der akuten Phase einer Pandemie kann man immer nur auf Sicht fahren. Aber wenn die Sicht besser wird, dann darf man auch wieder etwas Gas geben. Man sollte es sogar, weil sonst der Rückstau immer größer wird – und das dann wieder zu neuen Problemen führt.
Deshalb haben wir als KBV auch schon rechtzeitig, nämlich Mitte April, mit unserem sogenannten Back-to-life-Papier ein Konzept vorgelegt, wie man aus medizinischer Perspektive eine Rückkehr in die Normalität vorbereiten kann. Stand heute ist es leider so: Die Studienlage zu einem wirksamen Medikament gegen COVID-19 ist relativ ernüchternd, eine Impfung, die dann auch in entsprechendem Umfang verfügbar wäre, ist nicht in Sicht.
Doch die Infektionszahlen entwickeln sich auf eine Art und Weise, die gut händelbar ist. Deshalb ist auch die Rückkehr zur Regelversorgung in den Praxen das Gebot der Stunde. Die teils drastischen Rückgänge an Patienten, welche manche Facharztgruppen verzeichnen, sind alarmierend. Ein verschleppter Herzinfarkt oder ein zu spät entdeckter Tumor sind in der Regel sehr viel folgenreicher als eine Corona-Infektion.
Im Übrigen: Die Krankenkassen stöhnen wegen all der coronabedingten Sonderausgaben, die sie bezahlen sollen. Richtig ist, dass die Finanzierung nicht krankheitsbedingter Leistungen, wie etwa Tests an Gesunden, keine Aufgabe der GKV sein kann. Dazu haben wir uns auch gemeinsam mit dem GKV-Spitzenverband positioniert. Fakt ist aber auch, dass die Krankenkassen an der ambulanten Versorgung in der Krise gespart haben.
Viele Praxen waren deutlich leerer als sonst. Vorsorge-, Behandlungs-, Sach- und Laborkosten sind drastisch zurückgegangen. Aber vieles wurde nur aufgeschoben, jetzt muss die Regelversorgung wieder anlaufen, und zwar so schnell und umfassend wie möglich. Es gibt einen immensen Nachholbedarf. Das gilt für die Zukunft auch beim Thema Hygiene, denn das – beziehungsweise die fehlende Schutzausrüstung – war unsere einzige Achillesferse.
Deutschland muss wieder in den Normalbetrieb kommen. Kinder müssen wieder in die Schule gehen und das auch wieder ohne Masken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch wenn wir in Deutschland die Krise gut bewältigen konnten, so gibt es doch eine ungelöste Frage, die für die Zukunft bleibt. Diese betrifft die Krisenprävention beziehungsweise die Vorbereitung auf den nächsten Ernstfall. Tatsache ist: Deutschland war auf die Pandemie nicht vorbereitet.
Dass wir dennoch vergleichsweise glimpflich davongekommen sind, liegt an den Strukturen, die ohnehin vorhanden waren. Es lag nicht an besonderen Schutzvorkehrungen. Derzeit machen sich die Regierungen in Deutschland, Europa und der Welt Gedanken darüber, wie etwa die Versorgung mit Schutzausrüstung und Medikamenten sichergestellt werden kann.
Stephan Hofmeister wird in seiner Rede darauf noch zu sprechen kommen. Die Gesellschaft muss sich fragen und darüber debattieren, für welche Eventualitäten sie gewappnet sein will – und welchen finanziellen Preis sie bereit ist dafür zu zahlen. Wir haben beim Thema Schutzausrüstung gesehen, dass es sich damit nicht anders verhält als mit Turnschuhen und anderen Dingen: Steigt die Nachfrage, steigt der Preis, aber wenn die Nachfrage das Angebot übersteigt, und es trotzdem billig sein soll, dann ist eben auch Schrott dabei.
Die Gretchenfrage lautet: Was wollen wir uns leisten und was darf es kosten?
Wollen wir die höchste Sicherheitsstufe, also quasi Gürtel plus Hosenträger? Oder reicht nicht auch eines von beiden, wenn es qualitativ in Ordnung ist? Wer in nichts davon investieren will, dann aber hektisch wird, wenn die Hose rutscht, der hat das Nachsehen.
Sparen am falschen Ende ist der falsche Weg. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf auch unser ambulantes System nicht kaputtgespart werden. Die Folgen davon haben wir gerade in der Corona-Krise in anderen Ländern gesehen. Wir brauchen Investitionen in Praxen, wir müssen den Nachwuchs weiterhin fördern, damit Standorte in der Fläche erhalten bleiben.
Denn dieses engmaschige Netz aus selbstständigen Praxen, das es so nur bei uns gibt, hat die Menschen in der Krise aufgefangen. Wenn Praxen schließen müssen, wird dieses ambulante Versorgungsnetz löchrig, und irgendwann wird es reißen. Das aber würde das deutsche Gesundheitswesen teuer zu stehen kommen, und zwar in doppelter Hinsicht des Wortes, wenn die stationären Strukturen den Bedarf auffangen müssten – was sie nicht können. In Ländern wie Großbritannien und Italien konnte man drastisch sehen, was dann geschieht.
Vielen Dank.
Es gilt das gesprochene Wort.