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Stand 01.03.2024

Reden

Bericht von Dr. Sibylle Steiner an die Vertreterversammlung

Rede des KBV-Vorstandsmitglieds am 1. März 2024

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren, drei Schlagzeilen der zurückliegenden Wochen: „Apotheker wütend: Herr Minister schalten Sie das eRezept aus!; „Gesundheitsministerium wechselt fast alle STIKO-Mitglieder aus“; „Gesundheitspolitik: höllische Achterbahnfahrt"

Und damit auch von mir ein herzliches Willkommen in der KBV sowie im Livestream – und guten Morgen! Sehr geehrte Frau Vorsitzende, liebe Petra, liebe Kolleginnen und Kollegen, diese drei beispielhaft genannten Schlagzeilen zeigen überdeutlich: Was wir in der Gesundheitspolitik dringend wieder brauchen, sind Verlässlichkeit und gegenseitiges Vertrauen statt vager Versprechungen und mangelnder Wertschätzung. So, wie es jetzt läuft, ist auf Dauer keine ambulante Versorgung in den Praxen mehr möglich.

Misstrauen gegenüber dem selbstständig ausgeübten Beruf von niedergelassenen Ärztinnen und Psychotherapeuten ist jedenfalls ebenso fehl am Platz wie gegenüber dem KV-System und der gemeinsamen Selbstverwaltung.

Wir haben genug von Eckpunktepapieren ohne konkrete Umsetzungspläne. Wir brauchen – um es noch einmal klar zu sagen – keine unabgestimmten und unfertigen Gesetzentwürfe. Nicht zuletzt die zahllosen politischen Ankündigungen ohne Konsequenzen haben das Vertrauen der Vertragsärzte und -psychotherapeuten in die Gesundheitspolitik zerstört. Denn vor allem die Kolleginnen und Kollegen befinden sich in einer Zwickmühle: Während sie sich von der Politik zunehmend verlassen fühlen, verlassen sich ihre Patientinnen und Patienten darauf, dass die Praxen auch weiterhin für sie da sind. Aber ohne politische Verlässlichkeit lässt sich deren Betrieb nur noch unter höchsten persönlichen Anstrengungen aufrechterhalten. Ganz zu schweigen davon, dass – ohne jenes Maß an Verlässlichkeit – kaum noch jemand dazu zu bewegen sein wird, eine Praxis zu übernehmen oder zu gründen.

Wir sprechen also nicht nur über akute Probleme, sondern über irreparable Schäden für die zukünftige ambulante Versorgung, wenn wir nicht zu Verlässlichkeit und gegenseitigem Vertrauen zurückfinden. Ich habe Ihnen bei meiner Wahl versprochen, mit aller Deutlichkeit der Misstrauenskultur entgegenzutreten, mit der sich unsere Haus- und Fachärzte sowie die psychotherapeutisch tätigen Kolleginnen und Kollegen konfrontiert sehen.

Erste – wenngleich noch zaghafte – positive Entwicklungen haben wir in diesem Zusammenhang gemeinsam erreichen können: Zum Beispiel beim Thema Regresse beginnt der stete Tropfen eine erste Kuhle zu formen. So hat der Bundesgesundheitsminister nach dem Krisengipfel Anfang Januar zumindest angekündigt, dafür zu sorgen, dass unnötige Wirtschaftlichkeitsprüfungen und der damit verbundene erhebliche bürokratische Aufwand entfallen sollen mit einer „wirkungsvollen Bagatellgrenze“.

In diesem Zusammenhang sprach der Minister von 300 Euro. Die Rede ist dabei von „ärztlich verordneten Leistungen“. Wir fordern diese Bagatellgrenzen bei ärztlich verordneten Leistungen wie Arzneimitteln oder Heilmitteln sowie natürlich auch bei ärztlichen Leistungen – da darf es keinen Unterschied geben! Die Ankündigung der Bagatellgrenze ist ein wichtiger erster Schritt für den Weg aus einer Misstrauenskultur. Diesen Schritt gilt es jetzt zu konkretisieren, zu erweitern – und vor allem tatsächlich in ein Gesetz zu gießen.

Als weitere positive Tendenz sehen wir, wie das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und die gematik endlich erkannt haben, welche zentrale Rolle die Praxisverwaltungssysteme (PVS) bei der Digitalisierung – und damit vor allem bei der Umsetzung der elektronischen Patientenakte (ePA) spielen. Mit einem „Maßnahmenpaket“ kündigt der Minister an, die PVS-Landschaft zu modernisieren: mit einem Mix aus transparenten und verbindlichen Vorgaben sowie Anreizen, um – wie es heißt – „Funktionalitäten von Praxisverwaltungssystemen schneller und nutzerfreundlicher zu implementieren“. Zeitgleich möchte man den Wechsel zu leistungsfähigen PVS durch die Ärzteschaft erleichtern. So weit, so vage.

In Gesprächen wird allerdings auch immer wieder erkennbar, dass das BMG die Modernisierung der PVS-Landschaft schlicht auf die Formel reduzieren möchte: „Dann müssen die Praxen ihr PVS eben wechseln.“ Diese simple Rechnung geht allerdings nicht auf! Denn unterm Strich werden dadurch Aufwand, Kosten und Risiko auf die Ärzte und Psychotherapeuten abgeschoben. Und vor allem sind die im Digitalgesetz verankerten Sanktionen und Bußgelder, die sich gegen die Praxen richten, bislang nicht zurückgenommen. 

Was wir aber zweifelsohne brauchen, ist eine Kehrtwende, und zwar in Form gesetzlicher Garantien, dass Anwendungen erst dann in die Versorgung kommen, wenn sie ihre Funktionsfähigkeit und Praxistauglichkeit nachgewiesen haben. Das beinhaltet insbesondere auch praxistaugliche Verarbeitungszeiten:

Mehr als zwei Sekunden darf das Signieren von elektronischem Rezept (eRezept) oder elektronischer Arbeitsunifähigkeitsbescheinigung (eAU) nicht dauern und dabei womöglich auch noch andere Arbeitsprozesse am Rechner blockieren.

Mehr als zwei Sekunden darf es auch nicht dauern, bis Inhalte der ePA auf dem Bildschirm in der Arztpraxis zu sehen sind. Die Daten in der ePA müssen entsprechend schnell sowie einfach und strukturiert in das eigene PVS übernommen werden können. Mit mühseliger Recherche nach relevanten Dokumenten, Herunterladen und Hochladen von einzelnen PDFs kann es nicht funktionieren. Dann nämlich steht die eigentliche medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten in den Praxen still.

Weitere grundlegende Probleme geht das BMG ebenfalls nicht an: Die Ärztinnen und Ärzte müssen zwar Befunddaten aus bildgebender Diagnostik in die ePA übertragen. Allerdings steht für die Bilder selbst nur ein Speicherplatz von gerade einmal 25 Megabyte zur Verfügung. Das wird zur Folge haben, dass auch nach dem Neustart der ePA im kommenden Jahr Patientinnen und Patienten weiterhin Compact Discs von Praxis zu Praxis tragen müssen. Das nennt man dann Digitalisierung zum Davonlaufen.

Leider stehen auf dem Spielbrett der Telematikinfrastruktur (TI) die Hütchen der Praxen noch weitgehend allein da. Sie hat man mit Fristen und Sanktionen aufs Spielfeld getrieben, die Mitspieler aber noch nicht wirklich ins Spiel gebracht. So wurden Sanktionen zur Verwendung des eRezeptes gegenüber Krankenhäusern wegen Unzumutbarkeit ausgesetzt; elektronische Arztbriefe (eArztbriefe) sind mit den Krankenhäusern noch immer kaum möglich; eRezepte mit den Pflegeheimen schon gar nicht und die Mehrheit der Arbeitgeber verlangt weiterhin einen Papierausdruck der eAU. Da darf man sich nicht wundern, wenn aus einer Runde „Mensch ärgere dich nicht“ eine rundum frustrierte und ernüchterte Partie „Ärger und Frust in den Praxen“ wird.

Der Fokus von Politik und gematik war bisher immer auf die TI-Fähigkeit der Praxen gerichtet. Entscheidend ist im ersten Schritt doch aber, ob die PVS-Anbieter überhaupt TI-fähig und willens sind! Nehmen wir einmal den eArztbrief. Da scheinen sich manche PVS-Anbieter zurückgelehnt und die Aktualisierungen regelrecht verschlafen zu haben. Seit mindestens einem Jahr fordern wir die Hersteller dazu auf, sich zertifizieren zu lassen.

Die allermeisten Hersteller sind dem auch gefolgt. Aber das heißt leider nicht automatisch, dass sie auch liefern können. Rund 3.000 Praxen können noch kein zertifiziertes eArztbrief-Modul erwerben und etliche weitere Praxen warten noch auf die Installation; die meisten von ihnen Psychotherapeuten. Ihnen drohten nun finanzielle Kürzungen. Wir haben daher das BMG um Fristverlängerung gebeten: mindestens bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Verpflichtung aus dem Digitalgesetz. Ende letzter Woche hat uns das BMG mitgeteilt, dass die Verzögerungen bei der Industrie keine Kürzung der TI-Pauschale für Vertragsärzte und -psychotherapeuten zur Folge haben werden. Immerhin das!

Zukünftig muss das PVS inklusive aller erforderlichen Module und Schnittstellen für die Praxen zur hilfreichen Unterstützung werden: transparent, einfach und mit Mehrwert, mit verlässlichen Informationen zu TI-Readiness, Leistungsumfang und Performance. All das ist dringend vonnöten. Und zwar zusätzlich zu den Rahmenvereinbarungen, die wir als KBV nun mit den PVS-Herstellern schließen können. Denn diese bleiben für die Hersteller freiwillig. Die Kriterien für diese Rahmenvereinbarungen haben wir gemeinsam mit den Expertinnen und Experten aus Ihren Häusern erarbeitet und den Herstellern zur Kommentierung vorgelegt.

Über 100 Kommentare der Hersteller hat das Team ausgewertet, zahlreiche Punkte mit dem Branchenverband bvitg diskutiert und die Vereinbarung überarbeitet.  Wir werden sie noch in diesem Monat veröffentlichen. Sie kann außerdem eine hilfreiche Blaupause für die von uns im weiteren Schritt geforderten gesetzlich-verbindlichen Vorgaben darstellen. 
 
Während PVS-Optimierung und ePA noch vor uns liegen, ist das eRezept inzwischen da. Abgesehen von technischen Störungen in Apotheken und Performance-Problemen einzelner Software-Programme in Praxen und Apotheken können wir feststellen: Das eRezept kommt in Schwung. Bislang sagen 60 Prozent der Praxen, dass sie mit dem eRezept zufrieden sind.

Dies hat unsere Befragung ergeben, an der Anfang Februar mehr als 5.300 Ärztinnen und Ärzte teilgenommen haben. Ein paar zentrale Ergebnisse:

Schon heute nutzen 80 Prozent die Komfort-Signatur – nicht alle problemlos, vor allem weil es häufig noch zu lange dauert. Aber: Der Vorwurf der Apotheken, ihre technischen Probleme lägen daran, dass die Praxen die Komfortsignatur nicht einsetzen würden, ist also – um das klar zu sagen – völliger Quatsch!

Selbst jene 10 Prozent der Praxen, die mit der Stapelsignatur arbeiten, senden das eRezept ganz überwiegend sofort oder mehrmals am Tag raus. Das Problem liegt also eindeutig woanders! Scheinbar hakt es oft in den Apothekensystemen beim Versichertenstammdatenmanagement.

Bei mehr als jeder zweiten Praxis kehren mindestens einmal pro Woche Patientinnen und Patienten in die Praxis zurück, weil sie das eRezept nicht in der Apotheke einlösen konnten.

Auch die Kombination von eRezept und Lieferengpässen führt zu zusätzlichen Problemen zwischen den Apotheken-Systemen und jenen in den Praxen.

Ein besonderes Ärgernis: Die allermeisten machen die Erfahrung, dass ihre Patientinnen und Patienten unaufgeklärt in die Praxis kommen. Deshalb müssen die Praxen zeitintensiv ausgleichen, was Krankenkassen und BMG versäumt haben.

Und dann noch eine Randnotiz: Die gematik hat sich beim KV-System, bei uns allen, dafür bedankt, dass wir so beharrlich auf den Einlöseweg des eRezepts via elektronischer Gesundheitskarte (eGK) bestanden haben. Anfangs habe man eher gedacht, wir wollten den Prozess verzögern; nun aber zeige sich, dass dieser Einlöseweg mit über 80 Prozent der beliebteste sei und damit maßgeblich zur Akzeptanz des eRezeptes beitrage. Da kann ich in Richtung gematik nur sagen: Dann vertrauen Sie uns endlich, wenn es um medizinische Versorgungsfragen geht!

Ein weiterer Schmerzpunkt: Wie die eAU ist auch das eRezept – noch – kein vollständig digitalisierter Prozess und ein solcher Systembruch führt zu Mehraufwand: zum Beispiel bei der Versorgung von Patientinnen und Patienten in Pflegeheimen. Hier müssen die Kolleginnen und Kollegen nicht selten das eRezept an das Pflegeheim faxen! Das ist nur ein Beispiel dafür, dass die vermeintliche Formel des Ministers „mehr Digitalisierung führt zu weniger Bürokratie“ derzeit noch nicht aufgeht. Wir haben dem Minister längst pragmatische Lösungsvorschläge unterbreitet, die den Kolleginnen und Kollegen ein rechtssicheres Vorgehen ermöglichen und den Aufwand reduzieren sollen.

Das Stichwort „Aufwand“ bringt mich noch zum Qualitätssicherungsverfahren „Ambulante Psychotherapie“. Trotz einer komplexen und von uns allen deutlich kritisierten gesetzlichen Regelung ist es uns gemeinsam gelungen, unter diesen Umständen noch das Beste daraus zu machen und vor allem im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) eine regionale Erprobung durchzusetzen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, abschließend noch ein anderes Thema: Mit dem Medizinforschungsgesetz sollen die zwischen GKV-Spitzenverband (GKV-SV) und pharmazeutischen Unternehmen ausgehandelten Erstattungsbeträge für neue Arzneimittel vertraulich bleiben. Hier gilt, wer A sagt, muss auch B sagen: Denn vertrauliche Erstattungsbeträge haben zur Folge, dass weder die KBV mit dem GKV-SV das jährliche Ausgabenvolumen für Arzneimittel anpassen kann, noch können die KVen mit den Landesverbänden der Krankenkassen und Ersatzkassen regionale Ausgabenvolumina festlegen oder gar deren Einhaltung verantworten. Denn: Uns wären dann die tatsächlichen Verordnungskosten für neue Arzneimittel schlicht nicht bekannt. Geschweige denn, dass Ärztinnen und Ärzte Verantwortung für die preisbezogene Wirtschaftlichkeit übernehmen können, wenn sie das Preisschild für ihre Verordnungen gar nicht kennen!  Preisbezogene Steuerungsinstrumente sind unter diesen Bedingungen obsolet. Ein aus unserer Sicht ohnehin längst überfälliger Schritt!

Zum guten oder besser unguten Schluss noch einmal ein Zitat von Professor Lauterbach: „Die Grundlage der Politik muss die wissenschaftliche Evidenz sein.“ Das hat er erst Anfang des Jahres geschrieben. Aber: Per Gesetzentwurf will er an anderer Stelle schon wieder gegenteilige Fakten schaffen – mit freundlichen Grüßen an die interdisziplinären und unabhängigen Ethik-Kommissionen für Arzneimittelstudien.

Das MFG, das schon erwähnte Medizinforschungsgesetz, sieht in seinem jetzigen Entwurf eine Bundes-Ethik-Kommission beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor. Über deren Satzung und Mitglieder soll - beziehungsweise will - dann das BMG bestimmen. Wie schon bei der Ständigen Impfkommission ist das ein Angriff auf die bisher aus gutem Grund streng gehütete wissenschaftliche Unabhängigkeit von staatlichen Lenkungstendenzen. Noch ein Schritt hin zur schleichenden Einführung von Zentralisierung und Staatsmedizin.

Evident ist damit für uns leider nur eines: dass sich die Politik an viel zu vielen und viel zu wichtigen Stellen eben nicht um die wissenschaftliche Evidenz schert! Es geht hier um nicht weniger als um die Erhaltung erwiesenermaßen bewährter Prinzipien von wissenschaftlicher Unabhängigkeit und der Selbstverwaltung als Garanten für eine verlässliche Gesundheitsversorgung in unserem Land. Es wird Zeit, dass sich die Politik bei ihren Entscheidungen endlich wieder auf die Evidenz zurückbesinnt, Expertinnen und Experten unabhängig lässt, Praktikerinnen und Praktikern vertraut und die Selbstverwaltung weiterhin verlässlich die Versorgung regeln lässt!

Vielen Dank

(Es gilt das gesprochene Wort)

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