Logo-KBV

KBV Hauptnavigationen:

Sie befinden sich:

 
aktualisiert am 21.06.2023

Arztzeit-Mangel

Warum immer weniger Zeit für die Patientenversorgung da ist

„Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“ So definierte Albert Einstein den Begriff Zeit.

Die Zeit, die für die Versorgung von Patientinnen und Patienten zur Verfügung steht, wird als Arztzeit bezeichnet - diese lässt sich auf der Arztzeituhr der KBV ablesen.

Hier läuft die Zeit allerdings rückwärts. Und das, obwohl die Personenzahl der im Versorgungssystem tätigen Ärzte und Psychotherapeuten seit Jahren zunimmt.

Verschiedene Faktoren lassen die Arztzeit weiter schwinden. So entscheiden sich Ärztinnen und Ärzte immer häufiger für eine Festanstellung statt für die Niederlassung. Von 2011 bis 2021 hat sich die Zahl der angestellten Ärzte mehr als verdoppelt. Die Zahl der Vertragsärzte sank im gleichen Zeitraum um etwa 12 Prozent.

Immer häufiger arbeiten Vertragsärzte in Gemeinschaftspraxen oder medizinischen Versorgungszentren.

Der demografische Wandel macht auch vor der Ärzteschaft nicht halt. Der Anteil der Ärztinnen und Ärzte über 60 hat von 2011 bis 2021 um knapp 10 Prozentpunkte zugenommen. Vielen Praxen steht zudem ein Generationenwechsel bevor. Und die Nachfolger sind meist nicht gewillt, dauerhaft über 50 Stunden pro Woche zu arbeiten.

Neben der demografischen Struktur wandelt sich auch die Arbeitswelt. Work-Life-Balance rückt mehr in den Fokus. Egal ob angestellt oder selbstständig: Der Trend zur Teilzeit ist deutlich erkennbar.

Ein weiterer Zeitfresser ist die Bürokratie. Im Jahr 2020 verschlang sie, statistisch gesehen, in jeder Praxis 61 Arbeitstage. Zeit, die Ärzten und Psychotherapeuten bei der Patientenversorgung fehlt.

Digitale Anwendungen, die ohne ausreichende Tests ausgerollt werden, erhöhen den bürokratischen Aufwand nochmals. Im Vergleich zur herkömmlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung benötigen Praxen aktuell im Durchschnitt 50 Sekunden mehr für das Ausstellen der eAU. In Summe sind das insgesamt 1,25 Millionen Stunden pro Jahr.

Um dem Ärztemangel entgegenzuwirken, muss die Aus- und Weiterbildung gefördert und die Niederlassung wieder attraktiver werden.

Werden mehr Ärzte ausgebildet und lassen sich nieder, kann es gelingen, dass künftig wieder mehr Zeit für die Patientenversorgung zur Verfügung steht.

Die Zeit, die ein Arzt oder Psychotherapeut für die Behandlung von Patienten zur Verfügung hat, nimmt seit einigen Jahren stetig ab.

Die Versorgung ist momentan noch von einer guten Erreichbarkeit geprägt. 98 Prozent der Einwohner erreichen einen Hausarzt innerhalb von 15 Minuten.

Allerdings sind Fördermaßnahmen der Aus- und Weiterbildung notwendig, um das Versorgungsniveau für Patienten in den kommenden Jahren zu halten. Auch sollte die Niederlassung attraktiver gestaltet werden. Werden mehr Ärzte ausgebildet und lassen sich nieder, kann dies der fehlenden Arbeitszeit pro Arzt entgegenwirken.

Gründe für den Arztzeit-Mangel

Die Gründe für den Arztzeit-Mangel sind vielfältig: Neben Belastungen durch Bürokratie spielen auch veränderte Arbeitszeitmodelle eine große Rolle: Ärzte legen mehr Wert auf Work-Life-Balance und arbeiten häufiger als Angestellte und in Teilzeit. Auch Selbstständige, vor allem jüngere, sind oftmals nicht bereit, mehr als 50 Stunden in der Woche zu arbeiten.

  • Trend: starke Zunahme in Teilzeit tätiger Ärztinnen und Ärzte

    Trend: starke Zunahme in Teilzeit tätiger Ärztinnen und Ärzte

  • Trend: Anstellungen nehmen stark zu

    Trend: Anstellungen nehmen stark zu

  • Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte gestiegen. 2022 im Schnitt über 54,5 Jahre alt

    Durchschnittsalter der Ärztinnen und Ärzte gestiegen. 2022 im Schnitt über 54,5 Jahre alt

  • Der Anstieg des Durchschnittsalters ist in den letzten Jahren zum Stillstand gekommen

    Der Anstieg des Durchschnittsalters ist in den letzten Jahren zum Stillstand gekommen

  • Das Durchschnittsalter variiert stark zwischen den Fachrichtungen

    Das Durchschnittsalter variiert stark zwischen den Fachrichtungen

  • Entwicklung der Anzahl Praxen (Einzelpraxen und Gemeinschaftspraxen)

    Entwicklung der Anzahl Praxen (Einzelpraxen und Gemeinschaftspraxen)

  • Entwicklung der Anzahl Vertragsärzte

    Entwicklung der Anzahl Vertragsärzte

  • Entwicklung der Arbeitszeit der angestellten Ärzte

    Entwicklung der Arbeitszeit der angestellten Ärzte

  • Entwicklung der Anzahl Arbeitsstunden

    Entwicklung der Anzahl Arbeitsstunden

  • Entwicklung der Facharztanerkennungen für Allgemeinmedizin

    Entwicklung der Facharztanerkennungen für Allgemeinmedizin

Demografischer Wandel in der Ärzteschaft

Der demografische Wandel in Deutschland schließt auch die Ärzte ein. Der Anteil der Ärzte über 65 Jahren hat sich in den vergangenen Jahren stark erhöht (2012: 8.968 Ärzte, 6,4 Prozent gegenüber 2022: 18.218 Ärzte, 11,9 Prozent).

Dabei ist die Situation regional oft noch dramatischer: In mehr als der Hälfte der Planungsbereiche ist bereits mehr als jeder dritte Hausarzt über 60. Dies betrifft vor allem ländliche und unattraktive Regionen. Der hohe Altersdurchschnitt hat zur Folge, dass in den nächsten Jahren zahlreiche Praxen einen Nachfolger suchen werden.

Gerade die ältere Generation an Hausärzten arbeitet jedoch häufig noch mehr Stunden pro Woche als jüngere Selbstständige – diese Arztzeit fällt mit dem Ausscheiden der Ärzte über 65 Jahren weg. Und bereits heute sind über 4.800 Hausarztsitze unbesetzt und fehlen in der Versorgung.

Maßnahmen gegen den Arztzeit-Mangel

Die Arztzeit sinkt. Woran liegt das?

Dr. Stephan Hofmeister, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der KBV:
„Ja, auch wenn gemessen an der Zahl der Köpfe der Ärztinnen und Ärzte, die leicht gestiegen ist, insgesamt die Arztzeit singt, gibt es dafür mehrere Gründe. Der Hauptgrund ist sicher die neuen Modelle von Arbeitszeit. Insgesamt wird weniger pro Woche gearbeitet. Das gilt für Männer wie für Frauen, und das ist der größte Block, warum trotz der stabilen oder leicht steigenden Kopfzahl die Arztzeit am Patienten massiv sinkt.“

Gibt es weitere Gründe?

„Es gibt da eine ganze Vielzahl von weiteren Gründen, die dazu beitragen. Ein Grund ist zum Beispiel, dass die Hochspezialisierung in der Medizin dazu geführt hat, dass es viele Fachentitäten gibt. Denken Sie an die Internisten. Das war früher mal einer, das sind heute sieben, acht, neun verschiedene Fachspezialitäten. Das ist auch wichtig für die Patientinnen und Patienten, dass das Fachleute sind, heißt aber, wir brauchen mehr Köpfe. Auch das reduziert die Arztzahl oder die Arztzeit. Weiter reduziert die Arztzeit die Bürokratie, letztendlich auch der ganz hohe Frauenanteil, denn zum Glück bekommen die Frauen Kinder, aber das heißt, die fallen auch eine Zeit lang aus. Das sind alles kleine Faktoren, die zusätzlich mitzählen. Wir haben in der Pädiatrie zum Beispiel, in der Allgemeinmedizin Frauenanteile bei über 60 Prozent und teilweise 70 Prozent schon. Das heißt, hier verändert sich sehr viel, und damit sinkt insgesamt die zur Verfügung stehende Arztzeit.“

Was bedeutet es, wenn die Arztzeit sinkt?

„Ja, die Zeit, um Patienten zu versorgen, sinkt einfach, und es wird die Herausforderung der Zukunft sein, zu schauen, dass Ärztinnen und Ärzte immer dann für die Patientinnen und Patienten da sind, wenn die wirklich einen Arzt, eine Ärztin benötigen und sich die Ärztinnen und Ärzte möglichst mit nichts anderem beschäftigen außer der Versorgung von Menschen. Sie müssen also entlastet werden von der Bürokratie. Wir müssen den Beruf attraktiv halten, und wir werden mehr Köpfe brauchen.“

Wann ist ein kritischer Punkt erreicht?

„Ja, das mag ich schwer einschätzen, da wir in Deutschland natürlich von einem ganz hohen Niveau des Arztzugangs ausgehen. Wir haben ja hier immer die Erwartungshaltung, dass man für alles und jedes jederzeit einen Arzt für seine medizinischen Probleme konsultieren kann. Das ist ja weltweit nirgends so. Also, wenn Sie mich fragen, wann wird es kritisch? Da ist sicher noch ein bisschen Luft. Wann wird's aber unbequem, und wann wird die Politik nervös? Wann wird Bürgerin und Bürger nervös? Das passiert jetzt schon, obwohl wir eine ganz hohe Versorgungsdichte haben. Das heißt, wir müssen zwischen Bedarf und Bedürfnis unterscheiden.“

Was heißt das?

„Jemand hat mal gesagt, wir haben einen Sozialvertrag in unseren Sozialversicherungssystemen. Das halte ich für richtig und für eine kluge Aussage. Ein Sozialvertrag würde aber bedeuten, dass beide Seiten oder alle Beteiligten auch an diesen Vertrag gebunden sind, und anders als in fast allen anderen Systemen, die wir kennen, gibt es hier keine Checks and Balances. Das heißt, Bürgerinnen und Bürger müssen auch lernen, wann muss ich zu welchem Zweck Ärztinnen und Ärzte konsultieren, und diejenigen müssen sich dann auch um die Kranken kümmern, die wirklich diese Zeit brauchen. Und für alles andere haben wir weder Köpfe letztendlich noch Geld.“

Was muss noch getan werden?

„Reduktion der Bürokratie, möglichst Entlastung von allen nicht ärztlichen Aufgaben. Es kann ganz kleine Rolle kann spielen die Digitalisierung. Wird sehr überschätzt. Denn zehn Minuten am Videotelefon ist genauso zehn Minuten Arztzeit wie zehn Minuten physische Untersuchung, aber eine kleine Hilfe kann es sein. Das Wegfallen von Wegen, also der Arzt im Auto auf dem Weg zum Patient ist die schlechteste Zeit-Nutzung dieser Qualifikation. Es gibt eine ganze Menge kleiner Dinge, mehr Ausbildung und wahrscheinlich eine Ausdünnung der Strukturen. Die wird notwendig sein, wie wir es auch in der Krankenhauslandschaft sehen. Weil mit den bestehenden Menschen, und das gilt nicht nur für Ärztinnen und Ärzte, das gilt ja auch für alle anderen medizinischen Berufe, in denen wir Hunderttausende offene Stellen haben, wird man wahrscheinlich das Angebot reduzieren müssen.“

Wen sehen Sie in der Pflicht?

„Ja, vor Ort ist das das System der Selbstverwaltung. Das System der Selbstverwaltung kann aber, wenn einfach gar keine Interessenten mehr da sind, auch nicht hexen, denn wir haben keine Ärztinnen und Ärzte im Keller und können die auch nicht klonen, und dann geht der Ball zurück an die Politik, die die Rahmenbedingungen schaffen muss. Und wenn zu wenige Menschen das machen wollen, wir aber diese Menschen brauchen, dann sind offenbar die Rahmenbedingungen nicht gut genug. Das ist eine ganz einfache Schlussfolgerung. Für die Rahmenbedingungen ist die Politik verantwortlich.“

Wird die Versorgung der Zukunft so aussehen wie heute?

„Ja, die wird sich sicher insgesamt verändern. Ich hoffe aber sehr im Sinne der Patientinnen und Patienten und auch als Mensch, der möglicherweise ja auch mal medizinische Hilfe in Anspruch nehmen muss, dass es weiterhin möglich sein wird, das auch zu bekommen hier, und zwar zu bezahlbaren Preisen, und tatsächlich auch Ärztinnen und Ärzte noch ansprechen und adressieren zu können für medizinische Nöte.“

Weniger Praxen

Jeder zweite Arzt in der vertragsärztlichen Versorgung arbeitet in Gemeinschaftspraxen oder einer Einrichtung wie einem Medizinischen Versorgungszentrum. Diese Tendenz führt dazu, dass es an weniger Standorten als bisher Angebote für die ambulante Versorgung gibt. Dies zeigt die Zahl der Praxen: In den Jahren 2012 bis 2022 gab es deutschlandweit einen Rückgang von 7,6 Prozent.

Verschärft wird die Situation dadurch, dass sich immer weniger junge Ärzte in der hausärztlichen Versorgung selbstständig machen möchten. Dies liegt auch an den Rahmenbedingungen: Bürokratie, Haftungsansprüche Dritter und die Vergütung machen eine Niederlassung unattraktiv.

Die Zahl der Niedergelassenen ist daher in den vergangenen zehn Jahren um circa 13 Prozent zurückgegangen. Damit gehen dem System vor allem jene Ärzte verloren, die besonders viele Stunden (48,5 Stunden je Woche ) tätig sind.

Mehr angestellte Ärzte verschärfen Arztzeit-Mangel

Weitere Faktoren sind die Bevorzugung der Anstellung und Teilzeittätigkeit: Medizinstudierende geben in Umfragen an, dass sie lieber angestellt als selbstständig arbeiten möchten. Entsprechend hat sich die Zahl der Angestellten zwischen 2012 und 2022 mehr als verdoppelt, von 19.601 auf 46.109. 

Waren 2012 nur rund 19.601 Ärzte angestellt, waren es 2022 bereits 46.109. Damit sind bereits 30 Prozent der Ärztinnen und Ärzte in der Versorgung in Anstellung tätig.  Angesichts dieses stetigen Trends zur Anstellung (40-Stunden Woche) und zur Tätigkeit in Teilzeit werden immer mehr Ärzte benötigt, um das Versorgungsniveau aufrecht zu erhalten.

In den vergangenen Jahren wurde diese Entwicklung in der vertragsärztlichen Versorgung durch eine steigende Zahl an berufstätigen Ärzten ausgeglichen. Die Zahl der Studienabgänger in der Humanmedizin stagniert jedoch, sodass dem Gesundheitswesen insgesamt ausreichender Nachwuchs fehlt.

Ärzte leisten weniger Arbeitsstunden

Zudem zeichnet sich generell ab, dass jüngere Ärzte mehr Wert auf Fragen der Work-Life-Balance legen: Sie sind nicht mehr gewillt, jene Anzahl von Stunden zu arbeiten, die Vertragsärzte in der Vergangenheit zu leisten bereit waren. So ist die Zahl der durchschnittlich geleisteten Arbeitsstunden zwischen 2011 und 2021 von 50 auf 48,5 zurückgegangen. Diese Arztzeit fehlt für die Behandlung der Patienten.

Zusammengenommen führen diese Faktoren dazu, dass hinzukommende Ärzte nur einen Teil der bisher tätigen Ärzteschaft ersetzen und das Versorgungsangebot insgesamt abnimmt.

Fragmentierung der Versorgung

Die Medizin wird aufgrund des technischen und medizinischen Fortschritts immer weiter in einzelne Gebiete aufgeteilt. Dies bietet den Patienten ein breiteres ambulantes Versorgungsspektrum, beispielsweise in Form von Fachärzten. Allerdings entsteht dadurch ein steigender Koordinationsaufwand, der Ärzte wertvolle Zeit kostet. Gleichzeitig steigt der Bedarf an ärztlichen Behandlungskapazitäten.

Im Rahmen der fortschreitenden Spezialisierung kommt die hausärztliche Versorgung zu kurz, wie die Weiterbildungsabschlüsse zeigen: Nur 11 Prozent aller angehenden Fachärzte schließen mit einem Facharzt für Allgemeinmedizin ab. Der Arztmangel wirkt sich also in der hausärztlichen Versorgung besonders stark aus.

Belastung durch Bürokratie

In der vertragsärztlichen Versorgung steigt zudem die bürokratische Belastung wieder leicht an, nachdem in den Jahren 2013 bis 2016 ein Rückgang zu verzeichnen war. Das nimmt zusätzliche ärztliche Ressourcen in Anspruch, die bisher für die Patientenversorgung zur Verfügung standen, und verstärkt den Arztzeit-Mangel.

Rund 7,4 Stunden verbringen Ärzte laut Ärztemonitor in der Woche mit Verwaltungsarbeit. Statistisch muss jede Praxis pro Jahr 60 Arbeitstage für Bürokratie aufwenden.

 

Weiterführende Links