Aufarbeitung des Nationalsozialismus

KBV übernimmt Verantwortung

Als Nachfolgeorganisation der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) übernimmt die KBV mit der Aufarbeitung der grauenhaften Taten von Teilen der Ärzteschaft während des Nationalsozialismus ihre historische Verantwortung.

Wanderausstellung: Ärzte und Patienten im Dritten Reich

Mehrere Stapel des Ausstellungskatalogs "Systemerkankung"
Ausstellungskatalog zur Wanderausstellung Systemerkrankung

Im November 2024 präsentierte die KBV gemeinsam mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) der Technischen Universität Berlin erstmalig die Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ der Öffentlichkeit. Sie bildet den Abschluss eines von der Vertreterversammlung der KBV im Jahr 2018 initiierten Forschungsprojekts „Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands im Nationalsozialismus“ zur Geschichte ihrer Vorgängerorganisation, der KVD.

Den Wissenschaftlern stand dafür das umfangreiche Kölner Archiv der KBV zur Verfügung. Das größtenteils unveröffentlichte Quellenmaterial wurde für die Wanderausstellung multimedial aufbereitet: mit Texten, Dokumenten, Fotos sowie Ton- und Video-Material. Gezeigt werden verschiedenste Fallgeschichten – von Ärzten als auch Patienten, von Tätern als auch Opfern. Die Ausstellung ist 2025 und 2026 bei den Kassenärztlichen Vereinigungen zu sehen.

Feierliche Eröffnung der Ausstellung

An der Eröffnung am 28. November nahmen unter anderem die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, der Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach, sowie die Vizepräsidentin der Knesset, Orit Farkasch-Hacohen, teil. Auch weitere Mitglieder des israelischen und deutschen Parlaments waren anwesend.

Mitschnitt: Eröffnung Wanderausstellung

Was ist die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands?

Die KVD war ein Zusammenschluss der 1932 vom Verband der Ärzte Deutschlands (Hartmannbund) gebildeten regionalen Kassenärztlichen Vereinigungen, welche die Sicherstellung der ambulanten Versorgung der Bevölkerung im Deutschen Reich gewährten und die medizinischen Leistungen zwischen Kassenärzten und Krankenkassen abrechneten.

Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 stand die KVD unter der Aufsicht des Reichsarbeitsministers. Sie führte das Reichsarztregister und regelte die Kassenzulassungen, wodurch es möglich war, sowohl politisch oppositionellen als auch jüdischen Kassenärzten die Zulassung zu entziehen.

Ärzteschaft im Nationalsozialismus

Ärztinnen und Ärzte nahmen im Dritten Reich eine Schlüsselfunktion ein. Im Namen der sogenannten Rassenhygiene waren sie mitverantwortlich dafür, Menschen in „wertes“ und „unwertes“ Leben einzuteilen – und damit in den sicheren Tod zu schicken.

Für Zwangsterilisationen und Krankenmorde zeichneten sie sich ebenso verantwortlich wie für Humanexperimente in Konzentrationslagern. Ärztliche Standesorganisationen wie die KVD schalteten sich kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten gleich.

Jüdische Ärztinnen und Ärzte wurden verdrängt, vertrieben oder zunächst zu „Krankenbehandlern“ degradiert, sodass sie ausschließlich jüdische Patientinnen und Patienten versorgen durften. Voraussetzung für zahlreiche NS-Medizinverbrechen war außerdem die Einschränkung der ärztlichen Schweigepflicht, die gebrochen werden durfte, wenn das „gesunde Volksempfinden“ ihr entgegenstand.

Interview mit dem Historiker Sjoma Liederwald von der Technischen Universität Berlin zur Wanderausstellung


Herr Liederwald, Sie und Ihr Kollege Dr. Ulrich Prehn vom Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) an der TU Berlin haben sich nun einige Jahre mit der Geschichte der KVD und dem Gesundheitssystem im Nationalsozialismus befasst. Welche Quellen haben Sie im Kölner Archiv der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) vorgefunden und ausgewertet?

Einige Akten im Archiv sind deutlich älter, zum Beispiel vom 1900 gegründeten Hartmannbund oder vom Ärztevereinsbund, beides waren quasi Vorgängerorganisationen der KVD. Das Archiv enthält aber auch Akten aus der Nachkriegszeit. Insgesamt haben wir in einem ersten Teil des Projekts rund 900 Aktenstücke in einer von uns erstellten Datenbank verzeichnet.

Es steht leider noch nicht fest, wo genau die Akten und die Datenbank zukünftig aufbewahrt werden können, damit später andere Wissenschaftler oder Forschungseinrichtungen diese alten Bestände erschließen können. Der zweite Teil des Projekts bestand dann darin, aus den gewonnenen Erkenntnissen eine Wanderausstellung zu erarbeiten.

Das heißt auch, die Archivbestände wurden nun erstmals komplett erfasst?

Genau, es gab vorher bereits Versuche von Archivaren der KBV, diese wurden aber nie abgeschlossen.

Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass die Aufarbeitung von Geschichte sich manchmal über so viele Jahrzehnte hinzieht?

In Bezug auf die KBV habe ich keine Einblicke, aber generell sind die institutionellen Aufarbeitungsprojekte ein Trend der letzten 25 Jahre – und vor allem sind sie eine Generationenfrage. In der deutschen Justiz oder auch beim Bundesnachrichtendienst ist es so gewesen, dass die erste Nachkriegsgeneration innerhalb dieser Institutionen häufig aus alten NS-Funktionären besteht, die im Nationalsozialismus Karriere gemacht haben. 

Das ist bei der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin ähnlich. Da gab es zum Beispiel den in der Ausstellung erwähnten Clemens Bewer, der langjährige Hausjustiziar, der auch seine Karriere in der KVD begonnen hat und nach dem Krieg lange Jahre für die Berliner KV tätig war.

Die nächste Generation ist in ihrer Karriere und Förderung noch völlig abhängig von diesen ehemaligen NS-Funktionären und hat aus persönlicher Verbundenheit zu diesen „alten Hasen“ auch kein Interesse an der Aufarbeitung. Die übernächste Generation hat diese Abhängigkeit nicht mehr und ist bereit, die Aufarbeitung in Angriff zu nehmen. Meine vorsichtige Einschätzung ist, dass es bei der KBV ähnlich war.

Gab es Überraschungen bei der Erschließung des Archivs?

Ja, ein Highlight ist ein Ordner mit der Aufschrift „Juden“, was uns natürlich neugierig gemacht hat. Das ist ein Sammelsurium von allem möglichem was mit der nationalsozialistischen Rassenideologie zu tun hat. Darin sind Dokumente aus der Zeit von 1934 bis 1943 enthalten, in denen es um Fragen geht wie: „Wer ist arisch und wer nicht?“

Es kommen die Nürnberger Rassegesetze vor, es gibt interne Schriftstücke, aber auch Ausschnitte aus Gesetzesblättern, dem Deutschen Ärzteblatt. Es geht um Diskussionen, wie mit jüdischen Ärzten umzugehen ist.

1938 wurden jüdische Ärzte degradiert, indem man ihnen die vollständige Kassenzulassung entzog. Anschließend wurden einige als „Krankenbehandler“ wieder zugelassen, die ausschließlich jüdische Patientinnen und Patienten behandeln durften. Das ist alles in diesem Ordner enthalten.

Und diese Dokumente waren vorher nicht bekannt?

Teilweise schon, wenn es zum Beispiel um Auszüge aus dem Deutschen Ärzteblatt geht, aber wir haben auch ein Schriftstück vom 22. Dezember 1938 entdeckt, in dem es darum geht, wie sich durch die große Zahl verhafteter Juden – darunter auch viele „Krankenbehandler“ – ein Versorgungsengpass ergeben hat und viele jüdische Patienten bei deutschen Ärzten auftauchen, was nicht erwünscht ist.

Da unter der jüdischen Bevölkerung aber Infektionen und Seuchen grassieren, will man unbedingt für die Entlassung der „Krankenbehandler“ aus den Konzentrationslagern sorgen, um die Krankenversorgung sicherzustellen und ein Übergreifen der Krankheiten auf die deutsche Bevölkerung zu verhindern. Am 13. Dezember erließ die Gestapo dann die entsprechende Verordnung zur Freilassung.

Was waren die Umstände, die zur Gründung der KVD geführt haben?

Seit den 1870er-Jahren gibt es Bemühungen der niedergelassenen Ärzte, sich standesrechtlich zu organisieren. Auf Landesebene gibt es Ärztevereine, Ärzteverbände mit zunächst freiwilligem Charakter. Am Anfang ist das Ziel, dass man ein einheitliches Berufsrecht entwickeln will, quasi eine Art Ärztekammer mit eigenem Zulassungswesen.

1883 werden die Krankenversicherungen eingeführt und die Ärzte sind zunächst vollkommen abhängig von diesen, einige sind im Grunde Arbeitnehmer der Versicherungen. 

Dagegen gibt es früh Widerstand. Das hat auch was mit dem bildungsbürgerlichen Hintergrund der Ärzte zu tun, da wird auch auf die Juristen geschielt, die schon früh ihre Rechtsanwaltskammern haben. Ab 1931 gibt es Kassenärztliche Vereinigungen, die dann alle Kassenärzte auf Landesebene geschlossen gegenüber den Krankenkassen vertreten, aber eben nicht auf Reichsebene.

Welche Rolle spielen dann später die Nationalsozialisten?

Die Nationalsozialisten sind unter den Ärzten sehr früh sehr populär. Das ist ähnlich wie bei den Juristen. Der Nationalsozialismus ist eine Bewegung des Bürgertums, des Bildungsbürgertums, des Kleinbürgertums, der Angestellten, der Freiberufler und der Selbstständigen. Die Nationalsozialisten setzen sich früh und radikal für die Errichtung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands ein.

Die KVD wird schon im Mai 1933 gegründet. 1935 wird die Reichsärztekammer gegründet, damit versichert sich der Nationalsozialismus der Loyalität des Ärztestandes. Viele junge Ärzte hoffen im Rahmen von Wiederaufrüstung auf neue Arztstellen. Bei der Ausgrenzung jüdischer Ärzte aus der kassenärztlichen Tätigkeit geht es auch viel darum, dass es in den 20er-Jahren eine Ärzteschwemme gab.

Viele jüngere Ärzte sind ohne Karriereaussichten und hoffen, dass sie durch die Vertreibungen einen der kassenärztlichen Sitze bekommen. Das ist eine Mischung aus bürgerlichem Standesdünkel, knallharten wirtschaftlichen Interessen und einer verschleppten Gesundheitspolitik aus der Weimarer Zeit. Der Nationalsozialismus ist gut darin, diese Konflikte für sich auszuschlachten.

Die KVD selbst spielt keine große Rolle in der Ausstellung. Woran liegt das?

Auf unserer Seite gab es kein Interesse, eine dicke Studie zu schreiben und aufseiten der KBV auch nicht. Es sollte etwas sein, was die Öffentlichkeit anspricht. Eine Wanderausstellung war da eine naheliegende Entscheidung. In dem Fall war unsere Meinung, wenn wir eine Ausstellung machen, dann brauchen wir viel mehr Kontext drumherum.

Am Ende geht es darum, ein Beziehungsdreieck zu erläutern. Ein Dreieck zwischen Patient, Arzt und ärztlicher Standesorganisation – und wie sich diese Beziehungen im Nationalsozialismus verändert haben.

Weitere Informationen

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Herbert-Lewin-Preis

Mit dem Herbert-Lewin-Preis werden seit 2006 wissenschaftliche Arbeiten ausgezeichnet, die sich mit der „Aufarbeitung der Geschichte der Ärztinnen und Ärzte in der Zeit des Nationalsozialismus“ auseinandersetzen.

Der Preis wird vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG), der Bundesärztekammer (BÄK), der Bundeszahnärztekammer (BZÄK), der Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und der Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) ausgeschrieben.

Ziel des Herbert-Lewin-Preises ist die Förderung der historischen Aufarbeitung der Rolle der Ärzteschaft im Dritten Reich. Zugleich soll er an engagierte Ärztinnen und Ärzte und Zahnärztinnen und Zahnärzte erinnern, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und ermordet wurden. Der Preis trägt mit dazu bei, Erfahrungen aus der Vergangenheit erlebbar und für die Zukunft nutzbar zu machen, damit sich Geschichte nicht wiederholt.

Preisvergabe und Jury

An der Ausschreibung des Herbert-Lewin-Preises können Ärztinnen und Ärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten als Einzelpersonen, Kooperationen oder Gemeinschaften von Ärztinnen und Ärzten sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Studierende der Humanmedizin oder medizinhistorischen Instituten tätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnehmen.

Die Bewertung der eingereichten Arbeiten und die Ermittlung der Preisträger werden von einer unabhängigen Jury vorgenommen, deren Mitglieder von den Trägerorganisationen und dem Zentralrat der Juden in Deutschland benannt wurden.

Der Preis ist mit insgesamt 15.000 Euro dotiert und kann von der Jury auf mehrere verschiedene Arbeiten aufgeteilt werden.

Gedenktafel auf dem Herbert-Lewin-Platz

Im Rahmen der „Gedenkfeier der deutschen Ärzteschaft“ wurde am 8. November 2018 im Beisein des stellvertretenden Parlamentspräsidenten der israelischen Knesset, Yehiel Bar, der Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Petra Pau, und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn auf dem Platz vor den Gebäuden der KBV und der Bundesärztekammer (BÄK) eine Tafel aus Messing in Erinnerung an jüdische Ärztinnen und Ärzte enthüllt.

Die Gedenktafel trägt die Aufschrift „Die Vergangenheit ist uns Verpflichtung für die Zukunft. Gegen Antisemitismus und Ausgrenzung. In Erinnerung an unsere jüdischen Kolleginnen und Kollegen und alle Opfer des menschenverachtenden NS-Regimes“.

Wer war Professor Dr. Herbert Lewin?

Herbert Lewin wurde am 1. April 1899 in Schwarzenau geboren. Nach einem Medizinstudium arbeitete er in der jüdischen Poliklinik in Berlin, ab 1937 bis zu seiner Deportation durch die Nationalsozialisten als Chefarzt im jüdischen Krankenhaus in Köln.

Nach seiner Befreiung nahm Lewin seine Arzttätigkeit wieder auf. In den Jahren 1963 bis 1969 bekleidete er das Amt des Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er starb am 21. November 1982 in Wiesbaden (Quelle: Zentralrat der Juden / ehemalige Präsidenten).

Am 4. Oktober 2004 wurde in Berlin der Platz an der Wegelystraße nach Herbert Lewin benannt. Dort hat auch die KBV ihren Sitz.

info

Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse

Die KBV hat den Lern- und Gedenkort der ehemaligen „Führerschule der deutschen Ärzteschaft“ in Alt Rehse gefördert. Seit dem Jahr 2001 engagiert sich der Verein „Erinnerungs-, Bildungs- und Begegnungsstätte Alt Rehse“ vor Ort, um die Geschichte der Führerschule historisch-kritisch aufzuarbeiten, unter anderem durch verschiedene Ausstellungen.

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