Wie Bürokratie und Regulierung den Praxisalltag belasten
Freiberuflichkeit unter Druck

„Ich habe Medizin studiert, um mit den Menschen zu arbeiten und nicht, um mich um Bürokratie zu kümmern und Formulare auszufüllen“, sagt der Wilhelmshavener Hausarzt Klaus-Peter Schaps. „Ich wünsche mir, dass sich Ärztinnen und Ärzte wieder auf ihre Arbeit mit den Patientinnen und Patienten konzentrieren können.“
Seine Berliner Berufskollegin Dr. Nicole Mattern berichtet ähnliches: „Ich hätte gerne mehr Zeit für Gespräche mit meinen Patientinnen, damit ich ihnen als Expertin zur Seite stehen kann.“ Die Gynäkologin sorgt sich darum, was der bürokratische Aufwand für ihre Arbeit bedeutet: „Ich möchte nicht das Gefühl haben, Gespräche schon nach sechs Minuten beenden zu müssen, obwohl noch Fragen offen sind.“
So wie Schaps und Mattern geht es vielen niedergelassenen Ärzten: frappierende 91 Prozent von ihnen fühlen sich durch bürokratische Aufgaben überlastet, wie Civey in einer Umfrage für die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) unter rund 5.000 Vertragsärztinnen und -ärzten herausgefunden hat. Durchschnittlich 61 Tage im Jahr wenden sie für Papierkram auf – und das zusätzlich zu ihren medizinischen Kernaufgaben.
Wie frei ist der Arztberuf noch?
Das wirft die Frage auf, inwiefern das Berufsbild des freien und weisungsunabhängigen Arztes noch der Realität entspricht. Zwar schränken bürokratische Vorgaben den niedergelassenen Arzt, die niedergelassene Ärztin nicht unmittelbar in ihrer Therapieentscheidung oder der vertraulichen Arzt-Patienten-Beziehung ein. Die obigen Beispiele zeigen aber: Die Zeit, die für die direkte Patientenversorgung bleibt, wird unweigerlich weniger, wenn mehr und mehr Papierstapel darauf warten, abgearbeitet zu werden.
Ich wünsche mir, dass sich Ärztinnen und Ärzte wieder auf ihre Arbeit mit den Patientinnen und Patienten konzentrieren können.
Somit lässt sich eher von einer Einschränkung des freien Arztberufes „durch die Hintertür" sprechen – zwar indirekt, aber mit ganz konkreten Auswirkungen: Laut der Civey-Umfrage spielen 61 Prozent der Vertragsärzte mit dem Gedanken, früher in den Ruhestand zu gehen. Das liegt auch, das zeigen die Daten, an der schieren „Regulierungswut“ in Deutschland, speziell im Gesundheitswesen.
Auch für angehende Mediziner sorgt Bürokratie nicht gerade dafür, dass sie älteren Kolleginnen und Kollegen die abzugebenden Praxistüren einrennen. Laut dem Berufsmonitoring Medizinstudierende liegt insbesondere das Interesse, später eine Einzelpraxis zu betreiben, bei nur fünf Prozent. Zwei Drittel des befragten Nachwuchses äußert als wichtigsten Faktor, der gegen eine Niederlassung spricht: medizinfremde Tätigkeit und Bürokratie – ein echtes Niederlassungshemmnis also.
Download
Dabei ist das Vorhaben Bürokratieabbau eigentlich politischer und gesellschaftlicher Konsens: Nicht nur Ärzte, auch Kleinst-, Mittel- und Großunternehmen sowie andere freie Berufe wie Apotheker oder Anwälte klagen seit Jahren über ein „Zu viel“ an Bürokratie – und fordern politisches Gegensteuern.
Diese Maßnahmen brächten Entlastung
Doch was ließe sich genau ändern? Die KBV hat dafür konkrete Vorschläge gemacht, die sich größtenteils schnell und ohne viel Aufwand umsetzen ließen. Dazu gehört beispielsweise der Verzicht auf die Pflicht von Arbeitnehmern, auch bei kurzer Krankheitsdauer ein ärztliches Attest vorlegen zu müssen. Allein der Wegfall von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei Erkrankungen von weniger als vier Tagen würde die Praxen jährlich um etwa 1,4 Millionen Arbeitsstunden entlasten. Die Bürokratiekosten würden um circa 102 Millionen Euro sinken.
Ferner sollten Krankenkassen bei den Praxen keine Informationen abfragen dürfen, die ihnen schon vorliegen – beispielsweise, weil sie bereits auf einer Verordnung angegeben sind. Einzelne Krankenkassen stellen außerdem Anfragen zu Verordnungen, die keine hohen Kosten verursachen. Eine Geringfügigkeitsgrenze würde hier helfen, meint die KBV.
Die Tage der Vorherrschaft von Bürokratie, technischer Dysfunktionalität und einer politischen Misstrauenskultur gegenüber Ärztinnen und Psychotherapeuten, die ihren Ausdruck in unsinnigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen, überflüssigen Qualitätsprüfungen, Sanktionen und Bußgeldern finden, müssen enden.
In eine ähnliche Kerbe schlägt sie mit dem Vorschlag einer Gebühr bei erfolgloser Antragstellung auf Abrechnungsprüfung. Damit würden Krankenkassen zahlen müssen, wenn ihre Anträge unbegründet sind und deshalb abgelehnt werden. Eine ähnliche Regelung gibt es bereits im Krankenhausbereich. Einsparen ließen sich damit jährlich fast 650.000 Arbeitsstunden und 47 Millionen Euro.
Insbesondere mit Blick auf Nachwuchsmedizinerinnen und -mediziner nimmt die KBV auch Regresse und Wirtschaftlichkeitsprüfungen ins Visier – ebenfalls gefürchtet bei allen, die über eine eigene Praxis nachdenken. So sollten Regresse aufgrund einer durch Lieferengpässe bedingten Verordnung von Impfstoff-Einzeldosen verboten werden. Außerdem fordert sie das Prinzip „Beratung vor Regress“ auch für Einzelfallprüfungen. Ferner sollte die sogenannte Differenzkostenmethode auch bei leitliniengerechten Arzneiverordnungen im Off-Label-Use angewendet werden.
Auch in der Digitalisierung sieht die KBV ein gutes Mittel, um Papier und vor allem Zeit zu sparen: etwa beim Antrags- und Genehmigungsverfahren für psychotherapeutische Leistungen, der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und der Digitalisierung von Formularen. Klare Voraussetzung dafür ist aber, dass entsprechende Anwendungen nicht zu mehr, sondern weniger Arbeit in den Praxen führen.
Download
Gesetz muss kommen
Die 19 Maßnahmen der KBV hätten an verschiedensten Stellen der ambulanten Versorgung direkte und, im wahrsten Sinne des Wortes, unbürokratische Auswirkungen. Zudem könnte Politik damit einen gewissen Teil des verloren gegangenen Vertrauens zurückgewinnen und wieder mehr Medizinstudierende für eine Praxis begeistern – oder zumindest weniger von ihnen abschrecken.
KBV-Vorstandsmitglied Dr. Sibylle Steiner bringt es bei der Vertreterversammlung Ende 2024 in Berlin auf den Punkt: „Die Tage der Vorherrschaft von Bürokratie, technischer Dysfunktionalität und einer politischen Misstrauenskultur gegenüber Ärztinnen und Psychotherapeuten, die ihren Ausdruck in unsinnigen Wirtschaftlichkeitsprüfungen, überflüssigen Qualitätsprüfungen, Sanktionen und Bußgeldern finden, müssen enden.“
Passend zum Thema


