Sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Selbstverwaltung und der Verbände,
meine Damen und Herren,
liebe Gäste!
Herzlich willkommen hier im Französischen Dom zu Berlin anlässlich des gemeinsamen Festaktes der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung zu 70 Jahren Selbstverwaltung!
Ich könnte mir vorstellen, dass der eine oder die andere von Ihnen vielleicht mit Gedanken wie diesen heute hierhergekommen ist: „Schon wieder ein Jubiläum einer in die Jahre gekommenen Institution, mit erwartbaren höflichen Respektsbekundungen und gegenseitiger Selbstvergewisserung. Immerhin gibt es nachher was zu essen.“
Wenn ich in Ihre Gesichter schaue, habe ich den Eindruck, eine Überraschung ist uns mit unserem Eingangsfilm gelungen: mit der unkonventionellen und wahrscheinlich eher unerwarteten Analogie zu 70 Jahre Disneyland. Bevor Sie jetzt aber Ihre Mickey-Maus-Ohren aufsetzen, möchte ich betonen: Das Gesundheitswesen ist kein Freizeitpark.
Aber: Es gibt tatsächlich mehr Gemeinsamkeiten, als man auf den ersten Blick denken mag. Wussten Sie zum Beispiel, dass auch die Region um den Disneypark in Florida schon seit Jahrzehnten einen Selbstverwaltungsstatus hat? Allerdings wurde dieser vor kurzem durch den republikanischen Gouverneur von Florida eingeschränkt, weil die regionale Selbstverwaltung ein neues Gesetz des Bundesstaates kritisiert hatte. Auf eine solche Idee würde in Bezug auf unsere Selbstverwaltung natürlich niemand kommen – zumindest habe ich das vor einigen Jahren tatsächlich noch geglaubt. Politische Eingriffe in die autonome Gestaltungsfreiheit – das kennen wir leider auch in der ärztlichen Selbstverwaltung, gerade in der jüngeren Vergangenheit.
Zweite Gemeinsamkeit: Disneyland gilt als der Archetyp des modernen Themenparks, oft kopiert und nie erreicht. Auch das Modell der ärztlichen Selbstverwaltung ist in dieser Form ziemlich einmalig und offenkundig nicht „von gestern“, denn es gibt immer wieder Länder, die Interesse daran zeigen, dieses Modell zu adaptieren. Kein Wunder, denn eigentlich ist es ein bestechendes politisches Konzept: Die Selbstverwaltung entlastet den Staat im Sinne der Subsidiarität; sie ist nah dran an den Menschen und Themen, für die sie zuständig ist und bietet dadurch eine besondere Expertise. Und sie genießt durch Wahlen derer, die sie vertritt, ein hohes Maß an demokratischer Legitimation.
Auch aus gesellschaftlicher Sicht spricht sehr viel dafür, so grundlegende und relevante Dinge wie die Gesundheitsversorgung weder ausschließlich dem freien Markt noch zentralstaatlicher Organisation zu überlassen. Auf der einen Seite sorgen die Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen mit ihrer regulierenden Tätigkeit für gleiche Werte und Standards in der Versorgung, statt sie dem freien Spiel des Marktes zu überlassen. Auf der anderen Seite bilden sie eine Art Schutzwall gegen ideologieanfällige Parteipolitik in den Gezeiten von Regierungslegislaturen.
Das Letzteres nicht zu allen Zeiten gegolten hat, wissen wir hier alle. Im sogenannten Dritten Reich hat die damalige Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands, die KVD, sich in vorauseilendem Gehorsam selbst dem Nazi-Regime untergeordnet und damit zur willfährigen Erfüllungsgehilfin einer rassistischen und faschistischen Ideologie gemacht. Sie sorgte dafür, dass jüdische Ärztinnen und Ärzte keine Kassenzulassung mehr erhielten und später gar keine Patienten mehr behandeln durften. Die ärztliche „Interessenvertretung“ wandte sich damit gegen die eigenen Mitglieder, entzog ihnen die Existenzgrundlage und trieb Tausende von ihnen ins Exil oder am Ende in den Tod. Während diese Ärztinnen und Ärzte selbst Opfer waren, wurden ungezählte andere zu Täterinnen und Tätern. Sei es, indem sie sich auf Kosten ihrer entrechteten Kolleginnen und Kollegen bereicherten, indem sie als Ärzte in Internierungslagern arbeiteten oder den systematischen Massenmord an kranken und behinderten Menschen unterstützten und vollzogen.
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung als Rechtsnachfolgerin der KVD hat diese schreckliche Vergangenheit wissenschaftlich aufarbeiten lassen und die Ergebnisse vergangenes Jahr in Form einer Wanderausstellung mit dem Titel „Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“ sowie einer dazugehörigen Website der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei wollen wir es jedoch nicht belassen. Die umfangreichen Akten und historischen Dokumente sollen kein zweites Mal hinter Archivtüren verschwinden, sondern wir wollen sie für weitere Forschungen zugänglich machen. Es geht dabei nicht um bloße Vergangenheitsbewältigung dieses dunkelsten Kapitels der Selbstverwaltung. Die Tatsache, dass ärztliche Funktionäre und Juristen der Selbstverwaltung, dass ihre Mitarbeitenden und Mitglieder sich durch ihr aktives Handeln – oder auch Nichthandeln – schuldig gemacht haben, passierte nicht von heute auf morgen. Es war ein schleichender Prozess, zumindest in den Anfängen. Das müssen wir uns immer wieder vergegenwärtigen. Grade in Zeiten wie diesen, in denen Orchester nicht auftreten dürfen, weil sie einen jüdischen Dirigenten haben, oder in Flensburg in einem Laden ein Schild hängt mit der Aufschrift „Juden haben Hausverbot“. Vor unserem geschichtlichen Hintergrund und angesichts unserer gesellschaftlichen Verantwortung als Ärztinnen und Ärzte, Zahnärztinnen und Zahnärzte sowie Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten erachten wir eine starke und unabhängige Selbstverwaltung heute als wesentliches Element einer gelebten und wehrhaften Demokratie.
Lassen Sie mich noch kurz bei der Historie bleiben und einen zeitlichen Sprung machen: Nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten wurde das vertragsärztliche System und damit die Kassenärztlichen Vereinigungen in kurzer Zeit auch in den neuen Bundesländern etabliert. Im Laufe des Jahres 1990 bauten Ärztinnen und Ärzte aus Ost und West gemeinsam mit viel Engagement und Pioniergeist die Kassenärztlichen Vereinigungen auf – obwohl es dafür noch keine gesetzliche Grundlage gab. Diese kam erst mit dem Einigungsvertrag, in dem stand, dass, „die Niederlassung in freier Praxis mit dem Ziel zu fördern ist, dass der freiberuflich tätige Arzt maßgeblicher Träger der ambulanten Versorgung wird“.
Das Tempo und die Rigorosität, mit der die DDR-Polikliniken damals zugunsten selbstständiger Praxen abgewickelt wurden, hat viele erstaunt. Andere, die dabei waren und den Aufbau der Kassenärztlichen Vereinigungen in den neuen Bundesländern aktiv unterstützten, berichten von einem regelrechten Massenansturm der Kolleginnen und Kollegen in die Niederlassung. Die Freiberuflichkeit hatte eine große Anziehungskraft. Horst Seehofer, ab 1992 Bundesgesundheitsminister, bezeichnete die Umgestaltung des ostdeutschen Gesundheitswesens später als eine der größten Leistungen der deutschen Sozialgeschichte. Leider waren die dann unter ihm erfolgten gesundheitspolitischen Weichenstellungen in der Folgezeit nicht hilfreich. Denn schon 1992 kamen das Globalbudget und diverse Kostendämpfungsgesetze für die ambulante Versorgung. Dieser Dauerrabatt wird den Praxen weiterhin abgezogen – in Summe mittlerweile ein hoher zweistelliger Milliardenbetrag an nicht gezahlten Honoraren –, vielleicht in der neuen Diktion auch eine Art Sondervermögen.
1999 wurden die Psychologischen Psychotherapeuten und die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten in die vertragsärztliche Versorgung und damit in die Selbstverwaltung der Kassenärztlichen Vereinigungen integriert. Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung brachte 2005 einschneidende Veränderungen für die Organisation der KVen; unter anderem die Fusion damaliger regionaler KVen, die weniger als 10.000 Mitglieder hatten, sowie die Hauptamtlichkeit der Vorstände.
Aber ich will Sie nicht mit weiteren historischen Daten ermüden. Ich will aber festhalten: Was wir über die Jahrzehnte und insbesondere in der jüngeren Vergangenheit beobachten, ist eine stetige und ungesunde Zunahme an Reglementierung und Regulierung in der vertragsärztlichen und vertragspsychotherapeutischen Versorgung und damit der Selbstverwaltung. Greifbar im wahrsten Sinne des Wortes wird dies in Form eines stetig im Umfang gewachsenen und mittlerweile völlig aufgeblähten Fünften Sozialgesetzbuches.
Natürlich sind wir als Körperschaften an der auch von den Praxen gefühlten übermäßigen „Kontrollitis“ nicht unbeteiligt, im Gegenteil. Der Grund ist aber, dass wir letztendlich umsetzen müssen, was Politik uns vorgibt. Und diese Vorgaben werden immer kleinteiliger, so dass das entscheidende Wörtchen „Selbst“ in Selbstverwaltung immer mehr zur Makulatur wird.
Immerhin: Der spürbare Abbau überbordender Bürokratie ist zumindest ein Ziel, das sich die Bundesregierung aktuell auf die Fahne geschrieben hat. Das Bundesgesundheitsministerium arbeitet diesbezüglich nach eigener Aussage an einem „großen Wurf“ für das Gesundheitswesen und hat uns als KBV hierbei um Unterstützung gebeten. Wir werden unsere Hausaufgaben machen und in freudiger Erwartung gerne unseren Teil dazu beitragen. Und in diesem Sinne lautet mein Appell an die Politik und insbesondere an Bundesgesundheitsministerin Warken: Geben Sie uns die Freiheit zurück, die wir brauchen. Das Prinzip der Selbstverwaltung ist ein Ausdruck des Vertrauens der Politik in die Kräfte der Selbstregulierung – aber es ist auch ein Versprechen, diesen freie Hand zu lassen! Wir brauchen wieder ein klares politisches Bekenntnis zur Selbstverwaltung und ein gemeinsames Verständnis, dass gesetzliche Regelungen zurückhaltend ausgestaltet sein müssen, damit die Selbstverwaltung ihre Stärke entfalten und wirken lassen kann. Denn wir wollen eben nicht nur verwalten, sondern Versorgung gestalten – mit Lösungen, die im wahrsten Sinne des Wortes praxis- und patientennah und nicht am politischen Reißbrett entstanden sind. Wir sind die Experten für Versorgung!
Nicht zuletzt die Erfahrungen der Corona-Pandemie haben die Bedeutung und die Handlungsfähigkeit der Selbstverwaltung und der ambulanten Versorgung mit vielen selbstständigen Praxen in der Fläche eindrucksvoll vor Augen geführt. Und wenn wir heute wieder – in anderem Kontext – davon sprechen, dass Deutschland krisenresilient werden muss, dann sind es diese unabhängigen und selbstverwalteten Strukturen, die einen wesentlichen Beitrag hierzu leisten können.
Ich habe vorhin aus dem deutsch-deutschen Einigungsvertrag zitiert, in dem die Praxen und freiberuflichen Ärztinnen und Ärzte als maßgebliche Träger der ambulanten Versorgung definiert sind. Das, meine Damen und Herren, gilt bis heute unverändert, trotz diverser politischer Zentralisierungsbestrebungen und gesetzgeberischer Eingriffe. Die sprichwörtliche Praxis um die Ecke ist für die Menschen ein hohes Gut, das hierzulande zur gesellschaftlichen Grundausstattung gehört, und das wohl niemand missen möchten – trotz Einsicht in den an der einen oder anderen Stelle notwendigen Reformbedarf im Gesundheitswesen. In der aktuellen gesundheitspolitischen Debatte ist fast immer von den Krankenhäusern die Rede – aber der tagtägliche Löwenanteil der Versorgung findet in den Praxen der Niedergelassen statt! Das sollten die politisch Verantwortlichen nie aus dem Blick verlieren.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss und habe noch eine weitere Analogie zwischen der Selbstverwaltung und dem Bild des Freizeitparks: Damit die Menschen die dort angebotenen Attraktionen ohne Einschränkungen genießen und nutzen können, bedarf es hinter den Kulissen einer reibungslosen und komplexen Organisation. Im Disneyland können Sie zum Beispiel auch spezielle Slots gegen Gebühr buchen, um einige Attraktionen schneller nutzen zu können. Gar keine schlechte Idee, oder?
In der ambulanten Versorgung kümmern wir uns um reibungslose Abläufe. Dass das immer schwieriger wird und das Räderwerk an der einen oder anderen Stelle auch einmal stockt, lässt sich nicht leugnen. Aber es ist eben schwierig zu schwimmen, wenn einem die Hände gebunden sind. Umso mehr hoffen wir auf den Willen der Politik und nicht zuletzt der zuständigen Ministerin, dass sie den Stellenwert der Selbstverwaltung anerkennt und uns nicht nur pro forma anhört, sondern als das begreift, was wir sein können und wollen, wenn man uns nur lässt: die Experten für Gesundheit und Garanten einer am Gemeinwohl orientierten Versorgung. Salopp gesagt: Wir sind nicht der Bremsklotz im System, keine bloßen „Lobbyisten“ – wir wollen helfen, denn das ist unser Auftrag. Man muss uns nur lassen.
Übrigens: In Disneyland gibt es auch ein „Tomorrowland“. Ich bin überzeugt, dass die Selbstverwaltung kein Konzept „von gestern“ ist, trotz ihrer 70 Jahre. Natürlich müssen wir uns auch selbstkritische Fragen stellen, etwa im Hinblick darauf, wie wir den ärztlichen, zahnärztlichen und psychotherapeutischen Nachwuchs nicht nur für die Niederlassung, sondern auch für berufspolitisches Engagement gewinnen können, damit die Selbstverwaltung lebendig bleibt. Voraussetzung hierfür ist, dass die Niederlassung eine attraktive Form der Berufsausübung bleibt oder wieder wird, neben und im Einklang mit anderen Formen dessen, was wir unter einer freien Berufsausübung verstehen, wie etwa den angestellten Kolleginnen und Kollegen in Praxen und Medizinischen Versorgungszentren. Das Prinzip der unabhängigen Berufsausübung ist nicht nur die Basis des notwendigen Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt oder Ärztin und Patient oder Patientin – es ist grundlegend für eine freie Gesellschaft.
Zusammengefasst: Wir können Zukunft und wir haben den Anspruch, diese mitzugestalten. Denn niemand ist so nah dran wie wir. Insofern setzen wir auf die Politik als „Möglichmacher“, der gemeinsam mit uns ein Gesundheitswesen gestaltet, auf das sich die Menschen auch in den kommenden Jahrzehnten verlassen können.
Vielen Dank
(Es gilt das gesprochene Wort.)